Russlands Umweltschützer: Bäume retten per Internet
Die Umweltbewegung in Russland kämpft gegen vielerlei Widerstände, gewalttätige Übergriffe und politische Behinderung. Doch mit Hilfe von YouTube, Blogs, Twitter & Co. erreicht sie mehr Menschen denn je.
09.11.2011
Von Thomas Klatt

Die 35-jährige Luftfahrtingenieurin Jevgenia Chirikova war alles andere als eine Politaktivistin, als sie anfing, sich gegen die Umweltzerstörung in ihrer Heimat zu wehren. Ende der 1990er Jahre zog sie mit ihrer Familie in das nahe Moskau gelegene Chimki-Waldgebiet, damit ihre Kinder in einer natürlichen Umgebung aufwachsen konnten. Doch dann kam der Schock.

Sie ging - gerade mit ihrer zweiten Tochter schwanger - im Chimki-Wald spazieren, als sie auf den uralten Eichen rote Markierungen entdeckte. "Nach langen Recherchen fand ich schließlich heraus, dass das Markierungen zum Fällen der Bäume waren. Hier soll eine drei Kilometer breite Schneise für eine Maut-Autobahn zwischen Moskau und St. Petersburg nebst Infrastruktur geschlagen werden. Das konnte doch nicht sein, in diesem einmaligen, über 200 Jahre alten Naturschutzgebiet", empört sich die zierliche blonde Frau noch immer. "Ich schrieb Briefe an die Behörden und an Putin, und bekam nie eine richtige Antwort."

Gewalt ist an der Tagesordnung

Die junge Mutter ließ sich dennoch nicht entmutigen. Sie klebte Zettel an die Bäume, verteilte Flugblätter, führte viele Telefonate. Als die ersten Journalisten berichteten und immer mehr Protestierende ihren Wald sogar mit Zelten zu schützen begannen, wurde der Staat aktiv. Immer wieder kam es zu tätlichen Angriffen auf die Protestierer und auf kritische Journalisten.

Internationales Aufsehen erregte im November 2008 der Überfall auf Michael Beketow, Chefredakteur der oppositionellen "Chimkinskaja Prawda". Als einer der ersten berichtete er über den schützenswerten Chimki-Wald und Korruptionsvorwürfe gegen den verantwortlichen Bürgermeister Wladimir Streltschenko. Viele Kritiker und Oppositionelle halten den Bürgermeister von Chimki dafür verantwortlich, dass Beketow vor seinem Haus brutal zusammengeschlagen und im Frost liegengelassen wurde.

Der Journalist lag monatelang im Koma, ihm mussten ein Bein und mehrere Finger amputiert werden. Heute ist er schwer hirngeschädigt, sitzt im Rollstuhl, kann kaum sprechen. Dass nun ausgerechnet Premier Wladimir Putin einen mit umgerechnet 25.000 Euro hochdotierten Journalistenpreis an den oppositionellen Beketow verliehen hat, halten nicht wenige für Zynismus. Stattdessen sollten die Hintergründe des Attentates untersucht und aufgedeckt werden, finden viele.

Die Wahlen im Blick?

Es scheint, als demonstriere die politische Macht kurz vor den Parlamentswahlen Anfang Dezember so etwas wie Pressefreiheit, die es in Russland aber so gut wie nicht gibt. Die Vorstellung von Medien als einer vierten, kontrollierenden Macht im Staat ist russischen Politikern und Staatsbeamten von Grund auf fremd. In post-sowjetischer Tradition gelten vor allem Rundfunk und Fernsehen immer noch als Verlautbarungsorgane der Politik.

[listbox:title=Mehr im Netz[Englische Videos zur Chimki-Umweltbewegung##Videos in russischer Sprache]]

Doch vom Mangel an medialer Präsenz lässt sich die Chimki-Wald-Bewegung nicht abhalten. Was mit Zetteln und Flugblättern anfing, ist als Protestbewegung längst in Facebook und Twitter angekommen. Auf YouTube gibt es inzwischen Hunderte Beiträge über den Chimki-Wald.

"Es geht längst nicht mehr nur um den Wald, sondern um die Köpfe der Bevölkerung", sagt Jevgenia Chirikova, die Initiatorin der Moskauer Chimki-Wald-Bewegung, energisch. "Das Volk muss lernen, sich gegen die Politik und die Herrschenden zu wehren. Wir tun uns mit den Menschen zusammen, wir sind ein einmaliges Bürgerforum in Russland." Die modernen Mittel der Kommunikation könnten dabei nur Mittel, aber nicht Grundlage des Protestes sein. Wenn eine Bürgerbewegung wirklich etwas erreichen wolle, müsse vor allem die emotionale Betroffenheit erreicht werden, ist Chirikova überzeugt.

Das Gefühl muss angesprochen werden

Emotionale Betroffenheit hat der russische Biologe Alexander Karpov mit seiner Umweltgruppe Ecom in St. Petersburg erreicht. In einer 3-D-Animation konnte seine Gruppe den Bürgern klar machen, wie der geplante 400 Meter hohe Gazprom-Tower den Charakter der berühmten Altstadt von Sankt Petersburg zerstören würde.

Karpov vernetzte sich mit Architekten, Archäologen, Restauratoren, Verkehrsspezialisten und anderen Experten. Ein Wirtschaftswissenschaftler etwa rechnete aus, dass der Gazprom-Tower sich nicht wie stets behauptet innerhalb von 30 Jahren rentieren würde. Die Rechnung könnte nur aufgehen, wenn es langfristig keine Inflation in Russland gibt, hat er herausgefunden.

"Und dann legte man uns von Gazprom gefälschte Umfragen vor, wonach die meisten Bürger für den neuen Riesenturm seien. Und wir sagten: Das ist keine Frage der Volksabstimmung. Die Altstadt von St. Petersburg ist von der Unesco geschützt, das ist ein Menschenrecht", sagt Karpov. Später hat seine Gruppe selbst Umfragen erstellt - mit dem Ergebnis, dass kaum ein Befragter den Gazprom-Tower haben wollte.

Kein einziger Befürworter auf der Straße

Dann kamen 6000 Menschen zur Demo gegen diesen "Gaskratzer", wie der Tower von den Kritikern höhnisch genannt wurde, aber keine Pro-Demonstranten. "Es gab diese Befürworter überhaupt nicht", berichtet Karpov. Was kaum jemand für möglich hielt, geschah: Karpow setzte sich schließlich gegen den mächtigen Gazprom-Konzern durch.

Wichtig sei es, den Protest so früh wie möglich zu organisieren, bevor es eine Baugrube gebe, um so gar nicht erst vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Wie genau man den Bürgerprotest organisiere, sei gar nicht das Entscheidende. Sondern dass man ihn organisiere.

"Egal ob Flugblätter oder Internet - es macht immer gut 85 % aller Arbeit überhaupt aus, an die Menschen heranzukommen", weiß der russische Bürgerrechtler. "Die Müdigkeit kommt dann entweder vom stundenlangen Verteilen der Flugblätter in der Stadt oder vom Sitzen und Betreuen der Protest-Webseite."


Thomas Klatt ist freier Autor in Berlin.