Frieden in Nahost: Wie eine Schildkröte auf dem Rücken
Palästina wurde am vergangenen Montag in Paris mit respektabler Mehrheit zum neuen Vollmitglied der UN-Unterorganisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur Unesco gewählt – unter anderem gegen die Stimmen der USA, Deutschlands sowie zwölf weiterer Länder.
03.11.2011
Von Dieter Vieweger

Drängende Probleme haben manchmal den Effekt, dass sie sich durch ihre in Bedrängnis geratenen Protagonisten verselbstständigen – so gegenwärtig auch der Palästina-Konflikt. Mahmud Abbas – der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und Führer der Fatah – schafft Fakten.

Bei seinem Vorstoß hat Mahmud Abbas nicht einmal die Entscheidung über die von ihm am 23. September in New York bei der Uno-Vollversammlung beantragte Vollmitgliedschaft Palästinas als 194. Staat der Weltgemeinschaft abgewartet. Er wird nun von vielen Seiten kritisiert.

Position 1: Die Kritik erfolgt zu Recht

Die Unesco ist nicht der Ort, an der die Sache der Palästinenser politisch ausgetragen werden sollte, um im Nahen Osten Veränderungen zu bewirken. Ohnehin scheint die Aufnahme Palästinas bei der Unesco erst der Anfang gewesen zu sein – weitere UN-Unterorganisationen könnten folgen.

Für die Unesco führt dieser Schritt vermutlich zu einem finanziellen Fiasko. Schon unmittelbar nach der umstrittenen Entscheidung haben die USA angekündigt, ihre Mitgliedsbeiträge zurückzuhalten. Damit werden 22 Prozent der Finanzen bei der Unesco fehlen, und weitere Staaten könnten sich diesem Schritt anschließen.

Außerdem setzt diese Entscheidung die USA in Anbetracht ihrer Vetodrohung im UN-Sicherheitsrat zusätzlich unter Druck. Mahmud Abbas sollte bedenken, dass ohne die USA kein Frieden im Nahen Osten möglich sein wird. Ganz nebenbei – sozusagen als "Kollateralschaden" – zelebrieren die Staaten der EU ihre Uneinigkeit.

Position 2: Die Kritik erfolgt zu Unrecht

Über Jahre bemühte sich die Fatah, staatliche Strukturen in der Westbank aufzubauen. Trotz des Rückhaltes internationaler Organisationen und bemerkenswerter Erfolge kam sie der staatlichen Anerkennung nicht näher. Große Hoffnungen richteten sich auf Barack Obama, der am 5. Juni 2009 in einer Grundsatzrede in Kairo die Schaffung eines palästinensischen Staates und die Durchsetzung eines Siedlungsstopps in der Westbank forderte.

Bereits zehn Tage später sprach sich Benjamin Netanjahu für die Fortführung der "Roadmap" aus und bezeichnete zum ersten Mal in seiner politischen Karriere die Gründung eines palästinensischen Staats als möglich: "In meiner Vision leben zwei freie Völker Seite an Seite. Jedes hat seine eigene Flagge und seine eigene Hymne."

"Fortschritte im Schildkrötentempo"

Die dann aber von ihm genannten Konditionen für die Gründung eines Palästinenserstaates kamen Auflagen gleich: die Anerkennung Israels als Staat des jüdischen Volkes, der entmilitarisierte Status des Staates Palästina ohne Hoheitsrechte über seinen Luftraum und die Außengrenzen, das Verbot militärischer Bündnisse mit Drittländern und der Einfuhr von Rüstungsgütern. Die palästinensische Seite zeigte sich schon damals weithin enttäuscht.

Mahmud Abbas ließ verlauten, Benjamin Netanjahu habe nicht von einem souveränen Staat Palästina gesprochen, auch wenn er dessen Namen benutzt hätte. Tatsächlich kam das Adjektiv "unabhängig" in Benjamin Netanjahus Rede zur Bezeichnung des künftigen Palästina auch gar nicht vor. Mahmud Abbas resümierte: Der Versuch, den Friedensprozess zu bewegen, komme in der Region nur wie eine Schildkröte voran. "Netanjahu hat sie jetzt auf den Rücken gedreht."

Trägt der Fundamentalismus Früchte?

Seither hat sich für die Palästinenser nichts Grundsätzliches zum Besseren bewegt. Der Fatah laufen die Anhänger davon. Deren Führer halten nichts in den Händen, was den Friedensprozess bewegen könnte. Anders die Hamas. Die wird zwar offiziell von Israel als Terrororganisation angesehen und mit Kontaktsperre belegt, doch der Austausch von Gilad Schalit gegen 1027 in Israel inhaftierte Araber zeigte einmal mehr, dass man die Hamas nicht ignorieren kann.

Israel verhalf der Hamas vor der islamischen Welt zu einem neuen großen Triumph. Zahlt sich der unversöhnliche Kampf mit allen Mitteln also doch aus? Und was blieb der Fatah anderes übrig, als die Karte der UN-Mitgliedschaft werbewirksam ein zweites Mal zu spielen, um nicht hinter der Hamas als taten- oder erfolglos zu verblassen?

Lauter Verlierer

Nun steht die weltweite Diplomatie vor einem Problem, das sich wohl so schnell nicht lösen lassen wird. Das auch von der UN zu lange vor sich hergeschobene Problem droht, nur Verlierer zurücklassen:

  • Barack Obama kann vor der Präsidentenwahl in den USA die wichtige pro-israelische Wahl-Klientel nicht brüskieren. Die USA verfestigen so im Nahen Osten den Eindruck, unkritisch an der Seite Israels zu stehen, gleichgültig, ob Israel Siedlungen baut oder konstruktiv an einer Friedenslösung arbeitet. Dies wird im Umgang mit den sich nach dem "arabischen Frühling" neu formierenden Staaten Nordafrikas und Asiens Probleme aufwerfen. In den Augen der dort erstarkten oder sogar siegreichen Islamisten gelten die USA und Israel ohnehin als "Erzfeinde".
     
  • Die Israelis haben die Westbank fest im Griff und werden vermutlich mit verstärkter Siedlungstätigkeit sowie mit strengeren Straßensperren antworten. Das könnte zu einer weiteren Isolation Israels in der Weltöffentlichkeit führen.
     
  • Mahmud Abbas wird mit seinem Traum, einen Staat zu gründen, im gegenwärtigen Konfrontationskurs gegenüber Israel auf der internationalen Ebene zwar Erfolge verzeichnen, doch in Palästina mit seinen Zielen kaum vorankommen.
     
  • Obendrein fehlen der UN-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur auch noch Millionen für dringende Aufgaben in aller Welt. Auch das sollte uns Sorgen bereiten.

Die Aufgabe der Einigung ist nicht einfacher geworden

Weit mehr aber muss man sich um die Zukunft Israels und der palästinensischen Gebiete sorgen: Israel wird ohne einen funktionierenden Staat Palästina an seiner Seite, der lebenswerte Verhältnisse für seine Bevölkerung schafft und den Sicherheitsinteressen Israels genügt, nicht dauerhaft im Nahen Osten überleben können. Palästina kann ohne die Kooperation mit Israel keinen wirtschaftlich oder gesellschaftlich überlebensfähigen Staat errichten.

Für die Lösung all dieser Probleme sollte man die Vergabe des Friedensnobelpreises ausloben. Schade, dass Barack Obama ihn schon hat.


Dieter Vieweger ist Professor für Altes Testament und Biblische Archäologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel und Leitender Direktor der beiden Institute des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem und Amman. Zuletzt erschien von ihm "Streit um das Heilige Land: Was jeder vom israelisch-palästinensischen Konflikt wissen sollte", Gütersloher Verlagshaus, 296 S., 19,95 Euro.