Auf den Wirtschaftsseiten spielt der Mensch wieder eine Rolle
"Die Tageszeitungen haben bei der Aufgabe, eine moderne Wirtschaftsberichterstattung für den normalen Konsumenten zu machen, versagt." Dieses vernichtende Urteil fällten die Kommunikationswissenschaftler Wolfgang R. Langenbucher und Peter Glotz 1969 in ihrem Buch "Der missachtete Leser". Mittlerweile hat sich die der Wirtschaftsteil aber zu einer beachteten massentauglichen Lesestoff gewandelt.
03.11.2011
Von Anke Vehmeier

Heute würden sich Langenbucher und Glotz - und alle, die in den vergangenen Jahrzehnten ebenfalls ihren Unmut über den Wirtschaftsjournalismus ausdrückten – die Augen reiben. "Vor 40 Jahren waren die Wirtschaftsseiten ein Fachteil für ein Fachpublikum mit dem Anspruch, dass ihn bloß nicht jeder versteht", sagt Christian Knull. Heute haben sie eine wesentlich höhere Qualität und eine breitere Leseransprache als noch vor wenigen Jahren, bescheinigt der Geschäftsführer des Ernst-Schneider-Preises der Deutschen Industrie- und Handelskammern den Wirtschaftsseiten.

"Besonders die Lokal- und Regionalzeitungen haben sich gewandelt und sind besser geworden. Sie haben erkannt, dass sie die Themen wie Globalisierung, Währungskrise und Staatsverschuldung nicht für ein Fachpublikum beschreiben, sondern sie so und an den Stellen aufbereiten, wo sie den Alltag des Lesers berühren", sagt Knull. Es werde viel mehr erklärt und viel stärker auf die lokale Berichterstattung gesetzt.

Lokale Firmen beeinflussen das Alltagsleben

"Früher wurde kaum über Unternehmen im Lokalteil geschrieben. Ganz im Gegenteil: Die Wirtschaft fand in der Wirtschaft – also im Mantel – statt", sagt Sabine Schicke, stellvertretende Lokalchefin der Nordwest-Zeitung in Oldenburg. Und Wirtschaft bedeutete: nationale und internationale Themen. Das habe sich vor allem in den 1990ern verändert. "Die Firmen in den Kommunen beeinflussen das Leben in Gemeinde und Städten, und so werden sie jetzt auch im Lokalteil wahrgenommen – und das ist gut so und nicht etwa mit Anzeigen ersetzender Berichterstattung zu verwechseln. Werbung ist schließlich etwas ganz anderes", sagt die stellvertretende Lokalchefin.

Bei lokalen Wirtschaftsthemen gehe es heute zwar auch um Bilanzen, aber vor allem um besondere Unternehmensentwicklungen, um Arbeitsplätze, um einzigartige Produkte und Erfindungen, um strukturelle Veränderungen und natürlich um die Menschen, die für die Firma arbeiten. "Es geht aber auch darum, etwa nationale oder internationale Themen und Trends auf die eigene Kommune herunter zu brechen, zum Beispiel in Sachen Gewerbesteuer, Arbeitverdichtung oder auch bei strukturellen Entwicklungen, wie etwa weg von der Produktions- hin zur Dienstleistungsgesellschaft", beschreibt Sabine Schicke.

"Wirtschaft hat nach wie vor ein G'schmäckle"

Wie nah die Wirtschaftsjournalisten an ihren Lesern sind, zeigt auch die Serie "Wie sicher sind unsere Jobs?" des Zeitungsverlags Waiblingen – keine fachpublikumswirksame Verklausulierung, sondern ein glasklare Recherche-Aufgabe. Hintergrund war, dass die Region Stuttgart von der Wirtschaftskrise mit am stärksten betroffen war und Stuttgart bundesweit zur "Hauptstadt der Kurzarbeit" erklärt wurde. "Da wir uns nicht nur mit den Statements der 'üblichen Verdächtigen' zufrieden geben wollten, machte die Serie zwar aufwendiger, machte aber auch viel mehr Spaß. Wir kommen aber im Alltag an Arbeits- und Firmenjubiläen genauso wenig vorbei wie an den Pressekonferenzen von großen Firmen, der Kammern oder der Arbeitsagentur", sagt Martin Winterling, Leiter der Kreisredaktion beim Zeitungsverlag Waiblingen.

Die Themen konkret anzupacken mache Sinn. Denn: "Wirtschaft hat nach wie vor bei den Lesern ein G'schmäckle, wird mit Zahlensalat, mit Geschäftsberichten und mit Langeweile assoziiert. Wir versuchen, verbraucherorientierter zu recherchieren und zu schreiben, also mit der im Grunde für jeden Journalisten selbstverständlichen Fragestellung: Was geht es den Leser an, welche Auswirkungen hat das auf sein Leben, was kostet es?", erklärt Wirtschaftsjournalist Winterling.

Die Nähe zu den Lesern und der Region unterstreicht auch der Geschäftsführer des Ernst-Schneider-Preises, Christian Knull: "Heute werden viel mehr Themen wie Infrastrukturprojekte, Arbeitsplätze, Umwelt- und Klimaschutz unter die Lupe genommen. Da hat sich etwas verschoben und Wirtschaftthemen liegen im Trend, sie haben gesellschaftspolitische Bedeutung". Besonders spannend sei auch die Entwicklung bei den Publikumstiteln: "Viele dieser Zeitschriften machen heute mit Wirtschaftsthemen auf, das war früher undenkbar. Der Stern etwa macht heute den Rettungsschirm zur Titelgeschichte, wo früher lieber die Bademoden standen", so Knull.

Wirtschaft kann mehr als nüchterne Zahlen sein

"Wirtschaft kann auch durchaus ein Thema sein, das die Emotionen berührt", berichtet Andrea Tratner, stellvertretende Ressortleiterin bei der Neuen Presse in Hannover. Außerdem können diese Themen ein Stimmungsbarometer sein, das vor allem in Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise mit Erfolgsgeschichten ein wenig Mut und Optimismus vermitteln könne. "Wie gut aufgestellt ist eine Stadt oder die Region?", fragt beispielsweise Andrea Tratner, stellvertretende Ressortleiterin bei der Neuen Presse in Hannover. Unter diesen Aspekten hat die Redaktion die 100-teilige Serie "Team 2010" entwickelt und wurde dafür mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2010 "Kategorie Wirtschaft" ausgezeichnet.

Die Serie "Team 2010" ist eine andere Art von Unternehmensporträt. Gewinn, Umsatz, Investitionen – das sind nüchterne Zahlen. "Uns ging es um die Menschen hinter den Bilanzen, die 'Reifenschnitzer' im Weltkonzern Continental, das Start-up von Uni-Absolventen mit einer ambitionierten Idee, die Förster und Jäger, die für den örtlichen Energieversorger den Wasserschutzwald bewirtschaften", berichtet Tratner. Den Autoren ging es um die Beschäftigten, um ihre Leidenschaft, ihr Engagement, ihren Teamgeist. "So bekommt ein Firmen-Logo ein Gesicht. Und es ist nicht – wie sonst meistens – der Geschäftsführer, der im Rampenlicht steht", sagt die stellvertretende Ressortleiterin.

Die Kriterien, die beim Ernst-Schneider-Preis angelegt werden, dem Journalistenpreis der deutschen Wirtschaft, könnten von den Kommunikationswissenschaftlern Langebucher/Glotz stammen, denn sie erfordern die Qualitäten, die die Autoren einst bemängelten: Relevanz, Qualität und Aktualität der Recherche, Allgemeinverständlichkeit und Erzählidee. "Qualität heißt eine saubere Recherche und die Fakten müssen stimmen", betont Sabine Schicke. Und Martin Winterling ist überzeugt: "Wir dürfen die Lebensrealität der Bürger nicht aus dem Blick verlieren. Für die Wirtschaftsberichterstattung heißt dies, an den Arbeitslosen und Niedriglöhner ebenso denken wie an den Manager, Unternehmer und Aktionär". Nach Meinung von Andrea Tratner darf in der Wirtschaftsberichterstattung auch die Lust aufs Schreiben nicht fehlen – "viele Geschichten erscheinen auf dem ersten Blick dröge, oft lohnt sich aber der zweite Blick."


Anke Vehmeier ist freie Journalistin in Bonn.