"Nein, die belgische Situation bereitet mir keine schlaflosen Nächte, das tut die europäische", sagt Ministerpräsident Karl-Heinz Lambertz. Denn das Oberhaupt der rund 70.000 deutschsprachigen Belgier ist gleichzeitig Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion im Ausschuss der Regionen der EU und muss sich dort mit schlafraubenden Themen wie Griechenland und Euro auseinandersetzen.
In Lambertz' Heimat scheint der gordische Knoten geplatzt zu sein, und eine Staatsreform ist nach über 400 Tagen ohne Regierung auf dem Weg. Und das war alles andere als einfach, denn Belgien ist keine Demokratie, es sind zwei. Öffentlichkeit, Medien und Parteien sind strikt nach Sprachgruppen geschieden. Auf der einen Seite das aufstrebende Flandern, auf der anderen der wallonische Süden, der sich noch immer nicht vom Niedergang der Schwerindustrie erholt hat.
Drei Sprachgemeinschaften, die französische, die flämische und die deutschsprachige, drei Regionen, Flandern, Wallonie und Brüssel mit ihren jeweiligen Parteien mussten sich einigen. Ein Knackpunkt war der Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde (BHV), der Brüssel und einen Teil Flämisch-Brabants umfasste, wo Parteien beider Sprachgruppen antraten.
Niederungen der gewöhnlichen Politik
Und hier kam der wallonische Sozialistenführer Elio di Rupo ins Spiel, dem es nicht ohne Geschick gelungen ist, gemeinsam mit flämischen wie wallonischen Liberalen, Sozial- und Christdemokraten das BHV-Problem zu lösen. Der Wahlkreis wird geteilt, aber in den Brüsseler Randgemeinden kann man weiterhin für Kandidaten aus der Hauptstadt stimmen. Die Regionen bekommen jetzt eine stärkere Steuerautonomie, müssen sich aber auch stärker an den Ausgaben beteiligen. Die Gerichtssprache richtet sich nun nach den Streitparteien, in ganz Belgien muss jetzt beispielsweise auf Deutsch verhandelt werden, wenn beide Parteien das wünschen
Belgiens Vereinbarung über die Staatsreform (PDF, französisch)
Nach der grundsätzlichen Einigung geht es also in die Niederungen der gewöhnlichen Politik, und das heißt Haushaltsreform, Gesundheitsreform, Arbeitsmarktreform, und da liegen die Gräben nicht auf sprachlicher, sondern auf ideologischer Seite. Die Liberalen und hier die flämische Partei Open VLD noch stärker als die frankophone Partei Movement Réformateur plädieren für mehr Privatisierung und Kürzung der Sozialausgaben, während die wallonische Parti Socialiste der strukturkonservative Vertreter des Wohlfahrtsstaates ist.
Hinzu kommt, dass für die Staatsreform die Mehrheit in beiden Sprachgruppen notwendig ist, sodass die Stimmen der flämischen Grünen erforderlich sind, die ein wenig düpiert sind, dass sie nicht an der Regierung beteiligt werden sollen. Auch die separatistische Nieuwe Vlaamse Aliantie (NVA), im Norden stärkste Partei, wäre gern dabei und stänkert nun gegen die Wahlkreisreform. Dennoch ist die Stimmung im Land zuversichtlich, und man versucht, der Bevölkerung den Kompromiss zu verkaufen.
"Ich bin sicher, dass wir bis Weihnachten eine Regierung haben", sagt Lambertz optimistisch. Und Premierminister soll Elio di Rupo werden. Der offen schwul lebende Mann mit der Fliege ist eine Art belgischer Gerhard Schröder, der sich aus einfachsten Verhältnissen als Gastarbeitersohn an die Spitze gearbeitet hat.
Lachender Dritter: die Deutschsprachigen
Lachender Dritter im Streit ist wie so oft die kleine Deutschsprachige Gemeinschaft im Osten. Lambertz und mit ihm die überwältigende Mehrheit des Eupener Parlaments streben ein "Belgien zu viert" an und haben auch gute Chancen, auf Augenhöhe mit den beiden "Großen" zu kommen. Nach dem föderalen Kompromiss kann es jetzt auf unterer Ebene weitergehen. Die Gemeinschaft fordert von der Wallonie weitreichende Kompetenzen besonders auf dem Gebiet von Wohnungsbau und Raumordnung, die bisher bei der Region in Namur angesiedelt waren. Letztendlich geht es um die Aufhebung der Trennung zwischen Gemeinschaft und Region und die Schaffung einer deutschsprachigen Region.
Denn im Süden nähern sich die französische Gemeinschaft und die wallonische Region immer stärker an, sodass die deutschsprachigen Belgier auf der Strecke zu bleiben drohten. Hier strebt Lambertz für sein kleines Gebiet Kooperationen mit anderen Institutionen in- und außerhalb Belgiens an, wenn es Ostbelgien nicht selbst leisten kann. So gibt es heute schon eine Kooperation mit der Uni Potsdam auf dem Gebiet der Förderpädagogik.
Was letztendlich aber aus Belgien wird, ist schwer vorherzusagen. Ob es langfristig zu einem "Belgien zu viert" kommt, wie Lambertz es möchte, oder ob die Zentrifugalkräfte so stark werden, dass das Land doch noch auseinanderbricht, wie manch einer befürchtet, weiß man nicht. Es ist eben der normale belgische Wahnsinn, der niemandem den Schlaf rauben kann.
Dr. Klaus Schlupp ist freier Journalist in Aachen.
Titelabbildung aus "Asterix bei den Belgiern" (l.) mit freundlicher Genehmigung des Egmont Ehapa Verlags. Alle Abenteuer des Asterix (Band 0-34) sind in deutscher Sprache beim Egmont Ehapa Verlag erschienen. Die Softcover-Ausgaben von Asterix sind im Zeitschriften- und Bahnhofsbuchhandel oder bei www.ehapa-shop.de für jeweils 5,95 Euro erhältlich.