Militärseelsorge und Sinnsuche in Afghanistan
Andreas Wittkopf war zweimal als Militärgeistlicher in Afghanistan. Sein Erfahrungsbericht zeigt, wie Seelsorge unter Extrembedingungen Menschen bei der Sinnsuche unterstützen kann.
31.10.2011
Von Andreas Wittkopf

Vier Namen stehen auf dem Zettel, den mir der dienstälteste deutsche Offizier vor dem Gottesdienst am Freitag, den 15. April dieses Jahres, zureicht. Auf den Tag genau vor einem Jahr war eine Patrouille der Bundeswehr in der Nähe von Kunduz im Norden Afghanistans in einen Hinterhalt geraten. Auf dem Zettel standen Dienstgrad und Name der vier Soldaten – darunter ein Arzt – , die dort den Tod fanden. Im Gottesdienst auf der Terrasse des Deutschen Nationalen Unterstützungselementes im Kabuler NATO-Hauptquartier gedenken wir ihrer. Am Abend zurück im Camp Warehouse ein stilles Gedenken am Ehrenhain für die Kameraden, die nicht mehr lebend nach Hause kamen. Die Bitte dazu kommt von einem Sanitätssoldaten, der mit dem getöteten Arzt in Deutschland längere Zeit zusammengearbeitet hat.

Ein Afghanistan-Einsatz ist wie eine Lebenskrise

Gottesdienst im Einsatz heißt: Es kommen neben Soldaten verschiedener Konfessionen auch Atheisten und Andersgläubige. Hier kommt man mal auf andere Gedanken, entflieht und entkommt für rund zwei Stunden dem Gefühl, dass hier jeder Tag Mittwoch ist. Die äußeren Umstände begünstigen die im Vergleich zu Zuhause höhere Anteilnahme am Angebot der Militärseelsorge. Mein aktuelles Nachdenken zum Thema "Einsatz" hat mich dazu geführt, in jedem Einsatz etwas einer Lebenskrise Vergleichbares zu sehen: Herausgerissen aus dem normalen Alltag und den sozialen Beziehungen, die das Leben in Deutschland – im Frieden – bestimmen. Und bei vielen der tägliche Umgang mit der je aktuell sich verändernden Sicherheitslage.

Natürlich führt nicht jede Krise bei jedem Menschen dazu, dass er zum Glauben (zurück) findet, denn Menschen gehen mit Krisen sehr verschieden um. Aber die Bereitschaft, sich umfassenderen Sinnfragen zu stellen und sich auf das Gespräch mit dem Seelsorger einzulassen, ist – so meine Erfahrung – größer.

In Kabul betreue ich zusammen mit meinem Unterstützungssoldaten neben den Deutschen Anteilen in Camp Warehouse, wo wir stationiert sind, auch das Hauptquartier, den Flughafen und – je nach Lage – die Deutsche Botschaft, dazu die Deutschen in Kandahar und den strategischen Lufttransportstützpunkt Termez in Usbekistan. Das heißt: Wir sind viel unterwegs. Am Anfang macht man sich da so seine Gedanken – zum Thema Angst zum Beispiel – aber das verliert sich schnell. Die Arbeit wäre sonst nicht zu machen. Soldaten sagen, wenn sie zum Thema befragt werden, dass sie keine Angst vor dem Tod hätten. Sie nennen es Respekt vor dem Feind, meinen mit dieser bei der Bundeswehr gebräuchlichen Redewendung aber – so würde ich das interpretieren – das Gleiche.

Tote stellen Sinnfrage

Für mich war dieser Einsatz der zweite in Afghanistan. Ich war froh, dass das Deutsche Kontingent bis Ostern von Toten und schwer Verwundeten verschont geblieben war. Doch das blieb nicht so: Bis zu meiner Rückkehr Mitte Juli traf es das Kontingent dreimal: wieder im Norden, wieder in der Region Kunduz. Einige der Gefallenen kannte ich von Besuchen in Kabul und von Begegnungen in Masar-e Sharif. In dem Moment, wo man die Nachricht erhält, kämpft man dann doch auch als Einsatzpfarrer mit den Tränen, das ist ein Schlag und ich verstehe ein bisschen besser, wie sich Soldaten fühlen, die vom Tod ihrer Kameraden erfahren, mit denen sie – zumindest im Einsatz, oft auch zu Hause, den Dienstalltag geteilt haben.

Zweimal spreche ich im Rahmen des offiziellen Trauerappells, Worte, die – vor allem bei der Frage nach dem Sinn ihres Todes - als Kontrast zu den offiziellen Äußerungen gehört werden, denke zum Beispiel laut darüber nach, dass uns vor allem die Kinder in der Anfangszeit des Einsatzes am Straßenrand freundlich zugewunken haben und nun sich die Fälle häufen, in denen sie auch unsere Fahrzeuge mit ihrer Steinschleuder beschießen – so, als wären wir Besatzer und ihre Feinde.

Gesprächspartner auf Augenhöhe

Im Einsatz tragen auch wir Militärpfarrer Uniform. Wir sind aber Zivilisten und in keine militärische Hierarchie eingebunden, was sich daran zeigt, dass die Uniform Schutzanzug heißt, sich auf unseren Schulterklappen keine Rangabzeichen befinden und wir – als einzige – keine Waffen tragen. Die Vorteile liegen auf der Hand, da die Soldaten – gleich welchen Ranges – in uns stets einen neutralen Ansprechpartner finden, der ihnen auf Augenhöhe begegnet.

Und Schwierigkeiten gibt es immer wieder, besonders ab Beginn der zweiten Hälfte der jeweiligen Einsatzperiode. Krach mit dem Lebenspartner daheim, Langeweile, Lagerkoller oder die Frage nach dem Sinn des Einsatzes. Aber auch praktische Dinge, wie der Ärger über die langsame Internetverbindung und die Feldpost, die manchmal sehr lange unterwegs ist. Der Kontakt nach zu Hause ist allen sehr wichtig. Das muss stimmen. Und die Verpflegung.

Die Einsatzkritik, die es in Deutschland gibt, ist hier in Afghanistan kein Thema. Doch es wird schon darüber nachgedacht, was die Arbeit der Bundeswehr am Hindukusch für Sinn macht. Meine Beobachtung ist: Die Soldaten sind über all das, was an ziviler Hilfe für Afghanistan geleistet wird, und was die ISAF letztlich auch militärisch absichert, zu wenig informiert. Es gibt vieles, das sich hier zum Guten verändert, wenn man es einmal mit der Zeit der Taliban-Herrschaft vergleicht – trotz vieler Rückschläge, die immer wieder auch hinzunehmen sind.

Osterfest in Kabul

Zum Osterfest im Frühjahr dieses Jahres gab es schon früh Planungsbedarf sowohl seitens der Botschaft als auch seitens der Truppe. Für mich ein Zeichen, dass dieses "Fest der Hoffnung" bei den Deutschen hier in Afghanistan eine entsprechend hohe Priorität hat. Ostern haben wir hier beginnend mit Karsamstagabend gefeiert: Mit einem Gottesdienst vor der Oase, das ist eine kirchliche ökumenische Betreuungseinrichtung für Soldaten, mit einem Osterfeuer, Fackelschein und anschließendem Grillen.

Auch in Bezug auf den Einsatz finde ich es wichtig, zu vermitteln: Wenn wir manchmal noch nicht viel Positives sehen, es Rückschläge gibt und man schlicht nicht weiß, ob das Ganze überhaupt Sinn macht und wohin das einmal alles führen wird - am Ende siegt das Leben über die lebensfeindlichen und zerstörerischen Mächte dieser Welt. Meine Osterpredigt zu Matthäus 28, 1-10 stand unter der Überschrift: "Ich habe es euch gesagt" und setzte sich damit auseinander, dass christlicher Glaube und christliche Kultur letztlich auf dem Hörensagen von der Auferstehung beruht, Worte, die eben geglaubt werden wollen, aber gerade nicht zu beweisen sind. Schenke ich dem "Ich habe es euch gesagt" aber Glauben, so mag  sich für mich durchaus ein anderer neuer Lebenshorizont, eine andere Art von Zukunft und Zukunftshoffnung ergeben – für mein Leben, aber auch für die ganze Welt.

Am Ostersonntag feierten wir am frühen Nachmittag im "German Castle" des Deutschen Nationalen Unterstützungselementes am Kabuler Flughafen, am Abend in einem wunderschönen Garten im Hauptquartier, hier ebenfalls mit Fackeln und anschießendem Grillen. Am Montagvormittag beteiligten wir uns an einem Osterfrühstück der Deutschen Einheiten im Hauptquartier "unter Einsatzbedingungen" als Weißwurstfrühstück - ganz anders also als man das von Zuhause her kennt. Am frühen Abend dann der Gottesdienst in der Deutschen Botschaft mit anschließendem Konzert mit den sechs deutschen Militärmusikern vom Marinemusikcorps "Nordsee", die hier damit beauftragt waren, das Musikcorps der afghanischen Armee auszubilden und nebenbei fast alle Gottesdienste musikalisch mitbegleiteten. Es ist schon spannend wie viele an und für sich disparate Stücke sich hier im Einsatz zu einem Ganzen zusammenfügen lassen.

Natürlich haben wir im Rahmen der Gottesdienste auch Ostergeschenke weitergegeben, die uns aus Deutschland als Zeichen der Solidarität erreicht haben. Zwar spiegelt dieses Zeichen der Solidarität nicht das Gefühl der Mehrheit in Deutschland wider, die den Einsatz in Afghanistan im Rahmen von ISAF ablehnt, es war aber ein - wenn auch kleines - Zeichen dafür, dass es auch in Deutschland Menschen gibt, die an "ihre" Soldaten im Einsatz denken.

Der Einsatz belastet jede Familie

Ich selbst bin verheiratet und habe drei Kinder im Alter von vier bis elf Jahren, was den Einsatz als Militärpfarrer am Hindukusch nicht gerade vereinfacht. Wir – als Familie – kennen die Probleme, wenn die Kommunikation mal wieder nicht klappt, Spannungen entstehen, wenn man in schlechter Stimmung telefoniert, man nichts machen kann, wenn es den Kindern zum Beispiel in der Schule schlecht geht, man die eben nicht mal kurz in den Arm nehmen kann, um ihnen zu vermitteln: Hey, ich steh zu dir, egal, was passiert. Oder wenn man sich nach dem Einsatz erst wieder mühsam zusammen finden muss, weil vor allem wir als Eltern uns verändert haben.

Nach so einem Einsatz habe ich das letzte Mal gut drei bis vier Monate gebraucht, um wieder "anzukommen" in der Familie und im Dienst. Der Grund: Die Welt des Einsatzes ist mit all ihren Erfahrungen und Anforderungen zu Hause schlicht nicht vermittelbar. Nach zwei Monaten im Einsatz ist man in dieser fremden Welt mit der ganz anderen Lebensweise und Denke angekommen und hat den emotionalen Anschluss an zu Hause eigentlich schon verloren. Ähnliche Erfahrungen machen viele Soldaten und Soldatinnen. Mit den manchmal entsprechenden Konsequenzen zu Hause – privat und dienstlich.

Möglich, dass so ein Einsatz auch sensibilisiert, für all das, was wir zu Hause im Frieden genießen: die Gegenwart der Familie und der Freunde, die Möglichkeit, sich frei zu bewegen und seine Freizeit frei zu gestalten und der geregelte Dienst mit Feierabend und einem Wochenende. Dann hätten wir wirklich etwas gelernt – fürs Leben.

 

"Friedensethik in der Bewährung – Afghanistan-Einsatz, Militärseelsorge und mehr…." ist das Thema des Monats November. Dort sind auch Kommentare möglich.


Andreas Wittkopf, verheiratet, drei Kinder, ist im sechsten Jahr als Militärpfarrer in Schwanewede mit Zuständigkeit für Bremen, Bremervörde und Cuxhaven tätig.