Unbeholfen wirkt Hasibe Altin in der Menschenmenge. Die kleine untersetzte Frau schaut um sich und weiß nicht, was um sie geschieht. Die Situation überfordert sie. Schließlich setzt sie sich auf einen der Stühle, die vor der Bühne aufgereiht sind.
Es ist "großer Bahnhof" am Bahnhof Sirkeci im europaischen Teil Istanbuls – zu Ehren all der Gastarbeiter, die sich vor nunmehr 40 und mehr Jahren von hier aus nach Deutschland gingen. Der TRT hat eine symbolische Reise organisiert und schickt rund 30 Frauen und Männer mit dem "Göç treni", dem Zug der Migration, auf Fahrt. Anlass dafür ist das deutsch-türkische Anwerbeabkommen, das sich Ende Oktober zum 50. Mal jährt. Ziel der Zugfahrt ist München. Dort nämlich kamen die Gastarbeiter an. Vorher gibt es am Bahnhof Sirkeci Ansprachen von Politikern und Prominenten – und all das wird live vom türkischen Staatssender TRT übertragen. Am Gleis 1 schwirren viele Kamerateams anderer Sender und dutzende Journalisten umher.
Der Zug aus Istanbul erreicht nach fünf Tagen München
Aus unterschiedlichen Orten der Türkei fanden sich Menschen am Bahnhof Sirceki ein. Aus unterschiedlichen Orten Deutschlands sind jetzt für die Fahrt mit dem Göç-Treni zusammengekommen. Sie werden von vielen Journalisten und Kamerateams des TRT begleitet. Mit dabei sind auch türkische Politiker – der hochrangigste ist Parlamentspräsident Cemil Çiçek. Am diesem Sonntag, dem offiziellen Jahrestag, soll der Zug gegen 14.30 Uhr München erreichen.
Eine "kleine Abwechslung" von ihrem Alltag erhofft sich Hasibe Altin von dieser Tour. Beeindruckt ist sie schon am Vorabend. Erstmals verbringt sie die Nacht in einem schicken Hotel. Solch einen Luxus hat sie sich nie leisten können und auch nicht gewollt.
Alles rauchte und dampfte: Der "Schwarze Zug" wurde mit Kohle befeuert
Mit einem kleinen Rollkoffer steigt Hasibe Altin in den Zug. Damals, vor 41 Jahren, waren es zwei Gepäckstücke. In einem hatte sie Unterwäsche, Schuhe, warme Sachen und Socken; der andere enthielt Kochgeschirr, Tee, Zucker, Reis, Bohnen und andere Lebensmittel. Damit sie nach ihrer Ankunft genug zu essen hat. Sie wollte gewappnet sein auf die erste Zeit in dem Land, von dem sie nicht mehr wusste, als dass es Arbeitskräfte braucht. "Es war der 9. Januar 1970", erzählt Hasibe über ihre erste Zugfahrt. Auch die Uhrzeit weiß sie noch genau: Um 9 Uhr setzt sich der "Kara Tren" in Bewegung. Seinen Namen hat der "Schwarze Zug" zu Recht: Er wird mit Kohle befeuert. Unvergesslich das Pfeifen, das sie bei dieser Abfahrt diesmal vermisst. Der schrille Ton war wie ein "Messerstich ins Herz", erinnert sich die kleine Frau.
Hasibe Altin will nur ein paar Jahre in Deutschland bleiben, schnell viel Geld sparen und sich in der Heimat eine Wohnung kaufen. Grünes Licht für den Weg ins Wirtschaftswunderland gibt es erst nach der Gesundheitskontrolle. "Sie haben mir in den Mund geschaut, mich bis auf die Unterhose ausgezogen und untersucht", berichtet sie. Noch immer empfindet sie Scham, wenn sie daran denkt. Die Prozedur müssen alle, die als Gastarbeiter nach Deutschland wollen, über sich ergehen lassen. Ausgestellt werden die Papiere im "Deutschen Verbindungsbüro", das kurz nach dem deutsch-türkischem Anwerbeabkommen in Istanbul eröffnet.
Vor lauter Arbeit lernten Hasibe Altin damals nicht die deutsche Sprache
Hasibe gehört zu denen, "die Glück haben". Schnell bekommt sie einen Arbeitsvertrag – als Näherin (Bild: Mitte, Fotos: Canan Topçu) in einer Textilfirma bei Koblenz. Ihrem Mann verschweigt sie ihren Plan und gibt kurz vor der Abreise ihre zweijährige Tochter bei Verwandten in Obhut. Jung war Hasibe damals. Über Deutschland wusste sie nichts, daran hat sich in all den Jahren nicht wirklich etwa geändert. Kein einziges deutsches Wort kannte sie als 30-Jährige. Nur radebrechend spricht sie diese Sprache heute. Warum eigentlich? "Vor lauter Arbeiten kam ich nicht dazu", sagt Hasibe heute. "Es lohn sich gar nicht, weil ich bald zurückkehren werde", denkt sie damals... deswegen kaufte sie keine Waschmaschine und wäscht zehn Jahre lang von Hand. Heute schüttelt sie über sich selbst den Kopf. Es ist kein schönes Leben, das hinter ihr liegt. Sie ist überfordert in Almanya, kann so vieles nicht verstehen und deuten; ihr Radius bleibt klein. Nicht nur mental, sondern auch räumlich. Sie teilt sich das Zimmer mit einer Landsfrau, um wenig Miete zu zahlen, geht nicht aus, vermeidet jegliche Geldausgaben. Sie spart für eine Eigentumswohnung und unterstützt ihre Familie in der Türkei. Jetzt ist Hasibe 71-Jahre alt, hat kaputte Knie, Diabetes, hohen Blutdruck. Gerademal 700 Euro hat sie zum Leben. Die Rentnerin beschwert sich aber nicht. Vielleicht hilft ihr der Glaube. Hasibe ist eine gottesfürchtige Frau. Ansprüche zu stellen hat sie nie gelernt. Wie auch viele andere Gastarbeiter.
Doch anders als vor mehr als 40 Jahren ist diese Fahrt eine weitaus komfortablere. Nach dem Anwerbeabkommen fahren die Sonderzüge der Deutschen Bundesbahn zweimal in der Woche von Sirkeci ab. Drei Tage und zwei Nächte dauert die Fahrt auf harten Bänken, es gibt kein warmes Essen, nicht genug Wasser; die Toiletten sind verdreckt und verstopft, die Abteile vollgestopft. Jung und gesund sind all die, als nach Deutschland gehen. Die Frauen und Männer lassen in der Hoffnung auf eine finanziell sichere Zukunft Eltern, Ehepartner und Kinder zurück. Sie fahren voller Zuversicht in eine ungewisse Zukunft.
Reise in die Vergangenheit und viele Anekdoten im Gepäck
Mittagessen im Zug. Foto: Canan Topçu.
Anders als damals sitzen die Reisenden des Göç-Treni jetzt nicht nur auf weichen Polstern, sondern bekommen auch warmes Essen, heißen Tee und kalte Getränke serviert. Die Nächte verbringen sie in Fünf-Sterne-Hotels. Diese Fahrt ist bestens organisiert, anstrengend ist sie aber auch diesmal. Denn inzwischen sind sie alle alt und etliche auch gebrechlich.
Für Hasibe und die anderen ist dies eine Reise in die Vergangenheit. Ein Stichwort reicht, um in Erinnerungen zu schwelgen. Eine Anekdote folgt der anderen – Erlebnisse aus dem "Schwarzen Zug" werden ausgetauscht, aber auch von den späteren Autofahrten in die Heimat. "Was war ich doch blöd", räumt etwa Muhtat Mihmat ein. Er nahm einen Kredit auf, um einen Mercedes zu kaufen, damit er mit einem schicken Auto in sein Dorf fahren konnte. Er wollte den Zurückgebliebenen imponieren, gesteht sich der 73-Jährige ein. Von der schweren Arbeiten am Frankfurter Flughafen erzählt er den Leuten im Dorf nichts. Als der Zug an der Bahnstation "Villach" eine Pause macht, bietet dieser Ortsname Stoff für weitere Anekdoten. Der Villach-Pass, sehr hoch und sehr kurvenreich, war ein Alptraum für die Gastarbeiter-Familien, die mit dem Auto in die Heimat fuhren.
Das Trauma der Migration holt manch einen im Zug ein
Die Erzählungen dieser "Gastarbeiter" gleichen sich, weichen nur in den Details ab. Bisher wollte ihnen kaum jemand zuhören. Im Jubiläumsjahr werden sie von Journalisten und Kamerateams umzingelt. Dieses Interesse verstehen sie nicht so recht. Einige aus der Gruppe beklagen sich darüber, dass sich der Parlamentspräsident Cemil Çicek nur kurz bei ihnen blicken lässt – und dies auch nur in Begleitung der Medien. Der eine oder andere aus der Gruppe fühlt sich als Statist einer Inszenierung, die in Sirkeci beginnt und in München endet. Die Ankunft des Zugs wird im Fernsehen live übertragen. Am Münchener Hauptbahnhof wird es eine Feier geben – mit viel Politprominenz aus der Türkei und Deutschland. Vorher gibt es im Zug noch ein Gespräch mit Integrationsministerin Maria Böhmer (CDU) und einigen Arbeitsmigranten der ersten Generation. Böhmer bedankt sich bei den einstigen Gastarbeitern für deren Einsatz in der Bundesrepublik und betont, dass Deutschland nunmehr "unsere und ihre Heimat" ist.
Bisher haben sich weder deutsche noch türkische Politiker um die Generation der Gastarbeiter gekümmert. So jedenfalls ist die Wahrnehmung von vielen aus der Gruppe. "Uns sahen sie nur als Devisenbringer", "Wir haben vieles mit uns machen lassen und zu lange geschwiegen." Sätze wie diese Fallen immer wieder. Aber nur, wenn sie unter sich sind. Die meisten aus der Gastarbeiter-Generation haben sich mit ihrem Leben arrangiert, sich zu beschweren und Ansprüche zu stellen haben sie nicht gelernt. Auch auf dieser Reise ist das immer wieder zu spüren. Kaum einer muckt auf, wenn es etwa im Waggon zu warm oder die Luft stickig wird. Niemand fragt, warum eigentlich all Abgeordneten mitfahren, wenn sie sich nicht zu ihnen gesellen. Erst nach dem Hinweis deutscher Journalisten mischen sich die türkischen Parlamentarier "unters Volk" und hören zu, was die Gastarbeitern aus ihrem Leben zu erzählen haben. Schwer zu sagen, warum so manch einer der Senioren mit doppelter Zunge spricht: Während sie sich untereinander bestätigen, dass Deutschland doch zu ihrer "zweiten Heimat" geworden ist, betonen sie den türkischen Politikern gegenüber ihre Liebe zur Heimat. Vielleicht, weil sie denken, dass das von ihnen erwartet wird. Den deutschen Journalisten wiederum erzählen sie freimütig von ihren einstigen Träumen, Hoffnungen und auch Fehlern. Auf der Reise wird auch gesungen und getanzt, gelacht und geweint. Im Laufe der Fahrt werden die Tränen mehr. Verdrängte Erlebnisse kommen hoch. Das Trauma der Migration holt manch einen im Zug ein. Schwer einzuschätzen, welche Folgen diese aufwühlende Reise für Hasibe und die anderen haben wird.
Canan Topçu ist Journalistin und widmet sich seit vielen Jahren den Themen rund um Migration, Integration und Islam. Sie lebt in Hanau und arbeitet für unterschiedliche Medien.