Die Geschichte der türkischen Arbeitsmigranten beginnt vor 50 Jahren - in diese Geschichte haben sich so manche Fehler eingeschlichen; einer betrifft den Beginn des Anwerbekommens zwischen der Bundesrepublik und der Türkei. Unterschrieben wurden die Papiere, die für hunderttausende Arbeitnehmer und ihre Familien gravierende Folgen haben werden, laut Bundesakten am 31. Oktober 1961. Das Datum, das dieser Tage immer wieder kursiert, ist hingegen der 30. Oktober - und zweifellos der belangloseste Fehler. Weit gravierender sind die, die dem Anwerbeabkommen folgen. Dazu zählen die Sonderklauseln, die in den zwischen 1955 und 1960 getroffenen Vereinbarungen mit Italien, Griechenland und Portugal nicht enthalten sind.
Der Vertrag mit der Türkei sieht vor, dass die Gastarbeiter alle zwei Jahre ausgetauscht werden; nach Deutschland dürfen nur Frauen und Männer aus der Westtürkei; angeworben werden nur ledige; Familiennachzug ist nicht vorgesehen. Drei Jahre später entfallen diese Restriktionen, wobei das Rotationsprinzip wird auf Drängen der Arbeitgeber aufgehoben wird; es erweist sich als unproduktiv, angelernte Arbeitskräfte durch neue zu ersetzen.
Ankara will durch das Geld der Gastarbeiter Handelsbilanz ausgleichen
Ein anderer, zur Legendenbildung führender Irrtum bezieht sich auf den Initiator des Abkommens. Anders als viele Jahre kolportiert, ist es nicht die Bundesrepublik, die sich an die Türkei wendet, sondern umgekehrt. Ankara hofft, durch Geldüberweisungen der Gastarbeiter in die Heimat seine Defizite in der Handelsbilanz ausgleichen zu können. Das deutsche Außenministerium wiederum gibt auf Drängen der USA nach, die die geostrategische Bedeutung des Nato-Landes Türkei im Blick haben.
Kurz nach dem Anwerbeabkommen wird in Istanbul als eine Außenstelle der Bundesanstalt für Arbeit die "Deutsche Verbindungsstelle" eröffnet; sie vermittelt rund drei Viertel aller türkischen Gastarbeiter. Der Rest kommt über Hinweise von Verwandten, anderen Landsleuten oder durch direkte Bewerbung über private Vermittler nach Deutschland. Da die Zahl der männlichen Bewerber Ende der 1960er viel höher ist als Stellen angeboten werden, reisen etliche auch illegal ein. Frauen hingegen haben bessere Chancen; Sie werden etwa in der Elektro-, Bekleidungs- und Textil-Industrie gebraucht. In den Jahren kurz vor dem Anwerbestopp (November 1973) steigt die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte. Bis 1965 sind es rund 15.000; acht Jahre später liegt ihr Anteil bei 27 Prozent. Im Widerspruch der gängigen Meinung kamen Frauen auch als angeworbene Arbeitskräfte, also nicht nur als Ehefrauen und Bräute nach Deutschland.
Viele bleiben in Deutschland und träumen von ihrer türkischen Heimat
Die türkischen Gastarbeiter sollen nicht dauerhalft bleiben. Und sie wollen das selbst auch nicht. Das ist ein weiterer Irrtum. Denn sie kehren nicht zurück. Um ihnen einen Anreiz dafür zu bieten, wird am 1. Dezember 1983 das Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft verabschiedet. Konkret bedeutet das: Arbeitnehmer können ihren eigenen Anteil an Rentenversicherungsbeiträgen auszahlen lassen. Besonders schmackhaft wird die Rückkehr den Arbeitslosen gemacht. Sie erhalten zudem eine Rückkehrhilfe in Höhe von 10.500 Mark sowie 1500 Mark pro Kind. Die Rückkehrhilfe nehmen mehrere zehntausend türkische Familien in Anspruch, die meisten bleiben aber in Deutschland. Sie träumen weiterhin von einer Rückkehr und lassen sich nicht ein auf das Leben hier.
Die Probleme sind vorprogrammiert: Viele sehen nicht die Notwendigkeit, Deutsch zu lernen und die Weichen für die Zukunft ihrer Kinder zu stellen. Auch die Bundesregierung versperrt sich den Realitäten und geht viel zu lange davon aus, dass die Arbeitsmigranten nicht dauerhaft hier bleiben werden. Die "gesellschaftspolitische Integration" dieser Menschen vorzubereiten, ist nicht Bestandteil der Ausländerpolitik. Obwohl Wohlfahrtsverbände, Kirchen und auch hellsichtige Politiker wie Heinz Kühn darauf drängen. Der 1978 zum Ausländerbeauftragten der Bundesregierung gewählte Sozialdemokrat warnt in einem als "Kühn-Memorandum" (1978) in die Historie eingegangenen Papier vor den fatalen Folgen einer fehlenden Integrationspolitik. Erst im vergangenen Jahrzehnt vollzieht sich ein Wandel, wenn auch nicht alle Politiker das inzwischen offizielle Credo teilen, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist.
Mit den Menschen aus der Türkei kommen Muslime ins Land
Im August 2007 wird das Zuwanderungsgesetz reformiert, das zwei Jahre zuvor in Kraft getreten ist. Bei der türkeistämmigen Bevölkerung sorgt vor allem die Neuregelung für den Familiennachzug für Proteste. Ehepartner aus Nicht-EU-Staaten dürfen demnach erst dann einreisen, wenn sie mindestens 18 Jahre alt sind und deutsche Sprachkenntnisse nachweisen können. Offiziell soll diese Regelung zur Integration sowie zur Vermeidung von "arrangierten Ehen" beitragen; die Türkeistämmigen sehen darin eine Diskriminierung und einen massiven Eingriff in ihr Familienleben.
"Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen": Der viel zitierte Satz des Schriftstellers Max Frisch bedarf einer Ergänzung. Denn mit Menschen aus der Türkei kommen Muslime ins Land. Diese Tatsache wird nicht berücksichtigt. Orte für die täglichen Gebete gibt es nur vereinzelt in den Betrieben, Wohnheimen und Sammelunterkünften, wo in den ersten Jahren ein Großteil der Gastarbeiter lebt. Ihre Religion praktizieren türkische Gastarbeiter anfangs im Privaten. Erst ab Mitte der 1970er Jahre gründen sie so genannte Moscheevereine, mieten sich in leer stehende Läden sowie Gewerbe- und Büroräumen ein und richten Gebetstätten ein. Von der deutschen Gesellschaft völlig unbeachtet entstehen im Laufe der Zeit in abgelegenen Vierteln sowie Gewerbe- und Industriegebieten so genannte Hinterhofmoscheen, in denen nicht nur gebetet, sondern auch Korankurse und Religionsunterricht erteilt wird.
Der Islam wird im deutschen Stadtbild stärker sichtbar
"Wer ein Haus baut, will bleiben", erklärt der Architekt Salomon Korn 1986 bei der Einweihung des jüdischen Gemeindezentrums in Frankfurt am Main. In Abwandlung trifft diese Aussage auch für die einst aus der Türkei eingewanderten Muslime zu. Seit fast vier Jahrzehnten sind sie in Moscheegemeinden organisiert und beginnen mit stärkerem Selbstbewusstsein das einzufordern, was ihnen nach der Verfassung zusteht. Sie möchten ihren Glauben in würdigen und repräsentativen Stätten ausüben, und sie möchten nicht nur Gebetstätten, sondern auch ihre Gemeindezentren für Senioren- und Jugendarbeit ausbauen. Der Islam wird stärker sichtbar im Stadtbild; immer wieder kommt es zu Konflikten mit der Nachbarschaft, wenn Bauanträge für Moscheen eingereicht werden. Einer der heftig geführten Auseinandersetzungen betrifft die Zentral-Moschee in Köln-Ehrenfeld.
In den Diskussionen um türkeistämmige Einwanderer geht unter anderem auch darum, dass sie von hoher Arbeitslosigkeit betroffen ist und dass es um den schulischen und beruflichen Erfolg ihres Nachwuchs schlecht steht. Hier hat sich ein weiterer Irrtum eingeschlichen: Es sind milieuspezifische Probleme. Sie haben ihren Ursprung nicht in der Ethnie oder Religion. Denn es gibt auch viele erfolgreiche Menschen mit türkischen Migrationsbiographien. So wird manch ein türkischer Gastarbeiter schon nach kurzer Zeit zum Geschäftsmann und macht sich als Einzelhändler, Imbissbetreiber und mit Reisebüros selbstständig. Heute sind Unternehmer türkischer Herkunft in über 100 Branchen aktiv. Als Geschäftsleute und Firmeninhaber leisten sie einen nicht unerheblichen Beitrag zur Entwicklung der deutschen Wirtschaft. Es gibt inzwischen mehr als 80.000 Unternehmen, die zusammen rund 36 Milliarden Euro umsetzen und Arbeitsplätze für etwa 400.000 Menschen schaffen – davon schätzungsweise 60.000 in Dönerbuden, von denen es in ganz Deutschland rund 15.000 gibt. Türkeistämmige Unternehmer schaffen Arbeit und bilden auch aus. Die Quote der ausbildenden Betriebe hat sich in den vergangenen acht Jahren von acht auf 18 Prozent erhöht.
Für die Deutsch-Türken ist die Heimat der Eltern nur noch ein Urlaubsland
Vor dem Anwerbeabkommen leben in der Bundesrepublik gerade mal 1500 Türken; zwischen 1961 und 1973 siedelten sich rund 865.000 Gastarbeiter an. Heute leben hier knapp drei Millionen Menschen mit Wurzeln in der Türkei; die Hälfte hat bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. Für die Deutsch-Türken ist die Heimat der Eltern und Großeltern nur noch ein Urlaubsland. Sie sind in hier zuhause und Fremde in der Türkei. Sie sind inzwischen Bestandteil der Kulturszene – etwa als Schriftsteller, Regisseure und Commedians. Sie sind Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sie sind Anwälte und Ärzte, sie zahlen Steuern, leben von ihrem eigenen Verdienst oder auch von Transferleistungen. Sie sind längst keine homogene Gruppe mehr, sondern bilden das Spektrum der Aufnahmegesellschaft ab.
Canan Topçu ist Journalistin und widmet sich seit vielen Jahren den Themen rund um Migration, Integration und Islam. Sie lebt in Hanau und arbeitet für unterschiedliche Medien.