Reformation als Reformimpuls für alle Religionen?
Hat die Reformation Martin Luthers, die mit dem Anschlag der 95 Thesen am 31. Oktober 1517 begann und in deren Mittelpunkt die Rechtfertigung allein aus Glauben steht, nur eine Bedeutung für die christlichen Kirchen? Dieser spannenden Frage geht der ehemalige Vorsitzende des Evangelischen Bundes, der emeritierte Marburger Professor für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Hans-Martin Barth (72), in der Oktoberausgabe 2011 des Deutschen Pfarrerblattes nach.
27.10.2011
Von K. Rüdiger Durth

Das Fazit, das Barth zieht, ist: Reformation ist für alle Religionen lebensnotwendig, wollen diese nicht erstarren. Das gilt nicht zuletzt für das längst auch multi-religiös gewordene Deutschland, in dem nicht nur über vier Millionen Moslems (davon haben etwa 45 Prozent die deutsche Staatsangehörigkeit) leben, sondern in dem auch buddhistische Mönche keineswegs mehr für Aufsehen sorgen. Im westfälischen Hamm ist sogar ein weithin sichtbarer Hindu-Tempel errichtet worden. Und die Zahl der zum Teil stadtprägenden Moscheen hat inzwischen die 2000 überschritten.

Vor dem Hintergrund des 11. September 2001 und der Diskussion um die Integration vor allem muslimischer Bürger wird immer wieder die Forderung nach einem aufgeklärten europäischen Islam laut. Vereinfacht ausgedrückt: Den Muslimen fehlt eine Aufklärung nach europäischem Vorbild, die zudem eine Trennung von Staat und Religion ermöglicht. Diese jedoch ist den meisten Muslimen fremd. Selbst in der Türkei ist der vom Staatsgründer Atatürk eingeführte Laizismus auf dem Rückzug. Ohne eine Reformation, so meinen viele, drifte diese große Weltreligion immer mehr in einen radikalen Islam ab (der aber keineswegs zwangweise gewaltbereit oder gar terroristisch sein muss).

Ein Viertel der Menschheit ist areligiös

Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, wie sich auf der einen Seite religiöse Praxis asiatischer Religionen nicht selten mit der des Christentums vermischt (etwa die Bereicherung des Gebets durch die Meditation), auf der anderen aber die Zahl der Areligiösen vermehrt. Heute gilt etwa ein Viertel der Menschheit von schätzungsweise sieben Milliarden Menschen als areligiös. Professor Hans-Martin Barth, der zu den an meisten profilierten Religionswissenschaftlern unter den evangelischen Theologen zählt, ist durchaus optimistisch, die Rechtfertigungslehre auch im nichtchristlichen Umfeld verständlich zu machen:

"Die Botschaft von der Rechtfertigung lässt sich gegenüber allem Gesetzlichen in den nichtchristlichen Religionen profilieren, aber sie muss neu formuliert werden für Menschen, die religiös kaum ansprechbar sind. Dann kann sie vielleicht auch unter Reduktion des religiösen Vokabulars zum Ausdruck bringen, wie wir Menschen als Glaubende uns verstehen dürfen und wer wir sind. Heilsgewissheit meint dann nicht mehr in erster Linie den Ausblick auf ein ewiges Heil, sondern die Zuversicht, dass unser Leben nicht scheitern, sondern in einem großen Gelingen aufgehoben sein wird."

Die Freiheit der Reformation macht handlungsfähig

Die Rechtfertigung aus Glauben hat nach Martin Luther vor allem auch mit der Freiheit des Menschen statt religiöser Abhängigkeit zu tun. Aber auch mit Liebe, also der Liebe Gottes zu den Menschen und der Menschen zu Gott und dem Nächsten. Hier werde es für die meisten anderen Religionen schwer. Mit Ausnahme etwa des Judentums. Barth: "Liebe zu Gott und zu den Nächsten ist schon alttestamentliches Gebot und damit jüdisches Erbe. Aber die Gottesliebe wird im Judentum primär als Gebot verstanden, nicht als Geschenk. Und die ebenfalls gebotene Nächstenliebe bedarf der Kraft, die zu ihrer Verwirklichung führt."

Im Koran, so Barth weiter, kommt die Liebe kaum vor. In erster Linie verlange Allah Gehorsam ihm gegenüber, nicht Liebe. Das gelte freilich nicht für die Mystik, die allerdings offiziell kaum anerkannt werde: "Wenn alles auf den Gehorsam gegenüber Allah ankommt, der seinen Willen klar und unmissverständlich im Koran geäußert hat, dann kann hier nicht viel von Freiheit die Rede sein – weder im Blick auf die Auslegung des Korans selbst noch im Blick auf eigenständige menschliche Entscheidungen." Hindus sehen sich hineinverwoben in die Kette des Geburtenkreislaufs und in übergreifende kosmische Zusammenhänge. Freiheit gibt es nur jenseits dieses Kreislaufs. Buddhisten, vor allem vom Zen beeinflusste, können nach Professor Barth in einer erstaunlichen Weise von Freiheit reden.

Aber "es ist eine Freiheit, die nicht aus der Geborgenheit kommt und nicht notwendig zu einem verantwortungsbewussten Handeln in Freiheit führt. Freiheit im Sinn der Reformation provoziert Menschen, die sich an die Kette der Reinkarnation gefesselt haben, weil es für Christen um die Reinkarnation in diesem Leben, um Wiedergeburt zu einem Menschsein in Freude und innerem Frieden geht. Es ist eine Freiheit, die handlungsfähig und handlungsfreudig macht." Allerdings gebe es auch Anzeichen, dass der christliche Ansatz (Barmherziger Samariter) in asiatischen Religionen ankomme, etwa im "Engagierten Buddhismus" des vietnamesischen Mönchs Tich Mhat Hanh.

Heil ist unverfügbar

Christen, Juden und Muslime – so Professor Barth weiter im Deutschen Pfarrerblatt – kennen eine "letzte Instanz, der sie sich in unbedingtem Gehorsam beugen wollen". Viele Muslime würden, so Barth weiter, Luthers Auslegung des ersten Gebots akzeptieren und nachsprechen können: "Wir wollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen." Auch wenn auf den ersten Blick der Buddhismus nichts mit Luthers Reformation zu tun habe, da er nach christlicher Auffassung nicht einmal eine Vorstellung von Gott habe, gebe es doch spirituell eine gewisse Nähe:

"Für Buddhisten wie für die lutherische Reformation ist 'Sünde' ein transmoralischer Begriff. Die Ichbezogenheit gilt es aufzugeben, los zu werden! Das berührt sich durchaus mit dem, wie Luthers Reformation den sündigen Menschen wahrgenommen und zur Buße aufgerufen hat. Buddhisten versuchen, diese Situation durch Disziplin zu überwinden; deswegen hat man sie im Westen als eine Religion gebrandmarkt, in der Menschen sich selbst erlösen wollen. Doch auch Buddhisten wissen bei aller Strenge der Disziplin, dass das Heil, wie sie es verstehen, unverfügbar ist."

"Eine Religion, die zu Reform nicht bereit ist, stagniert"

Der frühere Vorsitzende des Evangelischen Bundes weist ferner daraufhin, dass Muslime für den Gottesbezug in der Präambel der Europäischen Verfassung eingetreten sind, dass Buddhisten gemeinsam mit Christen gegen den Konsumterror kämpfen oder liberale Juden durchaus bereit sind zur gemeinsamen Arbeit an Texten der Heiligen Schrift: "Zwischen den Kirchen der Reformation und nichtchristlichen Religionen bestehen jeweils eigene Beziehungsmöglichkeiten, aber auch Verstehensbarrieren." Aber es lohnt sich, Gemeinsamkeiten auszuloten, doch auch Trennendes zu benennen. Dabei zeige sich, dass das Judentum nicht nur aus vordergründiger Werkfrömmigkeit bestehe und die islamische Mystik dürfe nicht mit reinem Leistungsdenken identifiziert werden.

"Die Reformation kommt uns hier in Mitteleuropa als etwas Einmaliges und absolut Besonderes vor," stellt Professor Hans-Martin Barth fest, "aber Reformationen kennt man in allen Religionen. Man könnte sogar sagen: Religionen leben von ihren Reformationen. Religionsgeschichte ist zugleich eine Geschichte von Reformationen. Eine Religion, die zu Reform und Reformation nicht mehr bereit ist, isoliert sich, stagniert, bringt sich um die Entfaltung der in ihr liegenden Potenzen."

Die Reformation Martin Luthers sieht er in einer dreifachen Beziehung zu den nichtchristlichen Religionen: "Reformation kann Verbündete nichtchristlicher Religionen sein; sie wird aber zweitens immer auch als Provokation nichtchristlicher Religionen wirken. Drittens kann die Reformation einen Reform-Impuls für alle Religionen - einschließlich des Christentums – darstellen". Spannende Erkenntnisse und Überlegungen von Hans-Martin Barth zum Reformationstag 2011.


K. Rüdiger Durth ist ein langjähriger Beobachter des kirchlichen und politischen Geschehens.