"Die Türken sind in Deutschland angekommen"
Der Paderborner Kulturwissenschaftler Michael Hofman im Interview darüber, wie türkische Migranten das Gesicht Deutschlands verändert haben - und wie sehr ihre Lebenswirklichkeit zur Normalität geworden ist.
27.10.2011
Die Fragen stellte Markus Bechtold

Herr Hofmann, vor 50 Jahren kamen die ersten Türken als Gastarbeiter nach Deutschland. Wie haben sie das Gesicht von Deutschland verändert?

Michael Hofmann: Zuerst stand die türkische Migration nach Deutschland unter einem sehr schlechten Stern. "Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen", stellte damals der Schriftsteller Max Frisch sarkastisch fest. Lange Zeit hatte man sich um die Bedürfnisse der Menschen bei uns im Land einfach nicht gekümmert: Es kamen hauptsächlich Hilfsarbeiter, die kulturell nicht vorgebildet waren. Sie brauchten lange Zeit, bis sie überhaupt lernten, sich verständigen und mitteilen zu können. In den vergangenen zehn bis zwanzig Jahren hat sich aber auch die deutsche Gesellschaft geändert: Sie hat gelernt, die Migranten auch kulturell wahrzunehmen.

Ein gutes Beispiel ist der deutsch-türkische Filmregisseur Fatih Akin, der 2004 mit seinem Film "Gegen die Wand" den Goldenen Bären auf der Berlinale gewonnen hatte. Die Bild-Zeitung schrieb damals: "Deutschland hat mal wieder die Berlinale gewonnen". Das Beispiel zeigt: Wenn die Deutschen bereichert werden, gehört man zu ihnen. Bei Ehrenmorden hingegen sieht es anders aus: Die Deutschen grenzen sich ab und sagen: "Das sind die Türken". Migranten aus der Türkei sind vor allem in der Jugendkultur, beim Hip-Hop, im Comedy, etwa die Serie "Was guckst Du?!", oder in der Popkultur sehr prägend. Über meinen 16-jährigen Sohn stelle ich fest, dass diese Künstler oder Comedians generell nicht mehr so sehr als Migranten wahrgenommen werden, sondern als Mitspieler im kulturellen Spiel. Das ist eine positive Entwicklung.

Stimmt es, dass der Döner typisch deutsch ist, weil er in Wirklichkeit in Berlin erfunden wurde?

Hofmann: Ja, das ist tatsächlich wahr. In der Türkei gab es zwar schon Kebab, also das geschnittene Fleisch vom Spieß. Die Idee, das Fleisch in ein Fladenbrot zu packen ist aber in Berlin entwickelt worden. Und heute können Sie den deutschen Döner auch in Istanbul essen. Migration verändert also auch die türkische Kultur. Denn türkische Migranten übernehmen nicht eins zu eins ihre Heimatkultur. Im Kontakt mit der deutschen Kultur entwickeln sich neue Mischformen. Und diese Mischformen werden zum Teil auch wiederum von der deutschen Gesellschaft mit Interesse aufgenommen. Sicherlich haben die intensiven Kontakte der Migranten in die Türkei zur Europäisierung der Türkei beigetragen. Im Moment ist auch unser Bild von der Türkei viel positiver als noch vor zwanzig Jahren. Wir sehen die Türkei als ein dynamisches Land mit wirtschaftlichem Wachstum. Im Vergleich zu Griechenland hat die Türkei bei uns ein sehr positives Image. Dazu haben auch die türkischen Kontakte nach Deutschland beigetragen.

Es wird beklagt, dass manche Türken weder richtig deutsch noch gutes türkisch sprechen können. Sie würden oft in Deutschland nicht als Deutsche, in der Türkei nicht als Türken akzeptiert. Ist das ein Problem für die Betroffenen und wo fühlen Sie sich zu Hause?

Hofmann: Diese Verständigungsschwierigkeiten gibt es sicherlich. Und gewiss ist das für die Betroffenen auch ein Problem. Die Frage, wo man sich zu Hause fühlt, ist auch eine Frage nach der eigenen Identität. In Zeiten der Globalisierung ist das aber längst kein Einzelphänomen mehr. Es gibt unwahrscheinlich viele Gruppen in verschiedenen Ländern, die nicht so eindeutig bestimmen können, wo ihre Heimat ist. Aber vielleicht müssen wir uns als einheimische Deutsche auch angewöhnen, nicht von vornherein darin ein Problem zu vermuten. Es gibt sicherlich Menschen, die wohnen mal ein halbes Jahr in Hamburg und dann wieder ein halbes Jahr in Istanbul. Diese Menschen sind in der Lage sich jeweils in zwei Kulturen hervorragend zu integrieren und Leistung zu erbringen. Das erweitert den Horizont.

Der Film "Almanya - Willkommen in Deutschland" spielt mit beliebten Vorurteilen beider Nationalitäten. Als Zuschauer lacht man miteinander übereinander. Welche Vorurteile halten sich hartnäckig noch immer gegenüber der anderen Nationalität, obwohl sie völlig unhaltbar sind? Und welche Rolle spielen Klischees für das tägliche Miteinander?

Hofmann: Seit den Anschlägen vom 11. September 2001 spielen negative Vorurteile gegenüber dem Islam eine wichtige Rolle. Diese Vorurteile berühren wiederum sehr stark das Bild der türkischen Migranten in Deutschland. Viele Deutsche wissen nicht, dass die türkische Republik bereits seit über 80 Jahren eine säkulare Gesellschaft ist: zwar immer noch fromm und vom Islam bestimmt, aber eben auch säkular. Trotzdem steht in der deutschen Öffentlichkeit der Islam im Vordergrund, wenn sich hier ein Bild von der Türkei gemacht wird. Das ist ganz klar ein Vorurteil.

Ein weiteres Vorurteil ist die angenommene Bildungsferne der Türken. Natürlich gibt es heute auch unter türkischen Migranten und deren Familien Bildungsprobleme, die ich auch gar nicht wegdiskutieren will. Bevor das aber jetzt pauschalisiert wird, muss man bedenken, dass die Gruppen, die vor 50 Jahren nach Deutschland kamen, tatsächlich bildungsfern waren. Das war nämlich fast ein Kriterium ihrer Auswahl: Man suchte damals Hilfsarbeiter und nicht Intellektuelle! Umgekehrt haben Türken aber auch Vorurteile gegenüber Deutsche, die man sehr schön in den Texten der Migrationsliteratur lesen kann. In diesen Büchern bringen die Türken eine Kultur der Gastfreundschaft und der Familiensolidarität mit nach Deutschland. Die Deutschen hingegen werden oft als kühl und abweisend empfunden.

Erst neulich war ich bei einer Podiumsdiskussion: Dort hatten auch heute noch Einwanderer kritisiert, dass Deutschland Schwierigkeiten habe eine Willkommenskultur zu entwickeln. Wir müssen also nicht nur fragen, was müssen die anderen tun, damit sie sich gut integrieren, sondern wir müssen uns auch fragen, was können wir eigentlich tun, damit die Entwicklung noch positiver wird.

Glauben Sie, dass Filme wie Almanya helfen, das Verhältnis untereinander zu lockern?

Hofmann: Auf jeden Fall! Betrachtet man die Filmgeschichte, sieht man, dass die ersten Filme über türkische Einwanderer in den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts nahezu depressiv wirkten. Die türkischen Migranten wurden als Opfer, als unterdrücktes Wesen gezeigt. Mittlerweile gibt es viele literarische Texte, die das Thema auch komisch aufgreifen. Das ist ein gutes Zeichen dafür, dass man sich gegenseitig kennt und daher auch ironisieren kann. Der populären Fernsehserie "Türkisch für Anfänger" ist es gelungen, jeweils die Deutschen und die Migranten zu einer kritischen Selbstreflexion zu bringen, die keineswegs depressiv ausfallen muss, sondern vieles vielmehr komisch relativiert. Das ist wichtig.

Sind die Türken nach einem halben Jahrhundert Anwerbeabkommen mittlerweile in Deutschland angekommen?

Hofmann: Ja, die Türken sind in Deutschland angekommen! Vor kurzem hatten wir eine Veranstaltung organisiert: "50 Jahre deutsche Haymat", Heimat mit "ay" geschrieben. Man muss wissen: "Die" Türken gibt es nicht, wie es auch nicht "die" Deutschen gibt. Es gibt aber sehr erfolgreiche Künstler, Politiker oder Unternehmer und es gibt zahlreiche Beispiele türkischer Migranten an einer positiven Teilhabe an der deutschen Gesellschaft. Im Gegenzug gibt es aber auch bildungsferne Schichten.

Bezüglich der Parallelgesellschaften muss sich unsere Gesellschaft fragen, inwieweit wir diese Parallelgesellschaften selber miterzeugt haben. Sucht ein Türke nämlich in einem bürgerlichen Wohnviertel eine Wohnung, hat er immer noch geringere Chancen als jemand, der mit Namen Heinz Müller heißt. Integration, wenn man den Begriff verwenden will, betrifft immer beide: Nicht nur die Zuwanderer, sondern auch die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Und beide Seiten müssen noch besser werden. Es ist ein Prozess im Gange, den ich insgesamt optimistisch beurteile.


Prof. Dr. Michael Hofmann lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für Germanistik und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Paderborn. Er ist Mitherausgeber des Buches "Kulturgeschichte der türkischen Einwanderung" (2011).