In der Türkei kämpfen Erdbebenopfer mit der Kälte
Drei Tage nach dem schweren Erdbeben in der Türkei sind Zehntausende Menschen obdachlos. Sie sind dem Regen und der Kälte hilflos ausgesetzt. Hilfsgüter erreichen nicht alle Überlebenden. Die Opfer fühlen sich allein gelassen. Unmut über die Krisenhilfe wird laut.
26.10.2011
Von Jasper Mortimer

Die Familie von Mehmet Akbulut aus Ercis hatte Glück im Unglück. Nach dem schweren Erdbeben vom Sonntag schläft die 22-köpfige Familie in zwei Zelten in einem Fußballstadion. Decken und Gasheizungen schützen sie vor der klirrenden Kälte. Ganz anders die Situation von Mehmet Shirin Celik. Seine Familie hat eine notdürftige Unterkunft im Garten vor ihrem beschädigten Haus errichtet. Gelbe Plastikplanen werden von Nägeln und Seilen zusammengehalten. Regen tropft durch Löcher in der Plane. Im Zelt ist es bitterkalt. Die Familie hat nicht genug Planen oder Teppiche, um den Boden zu bedecken. In der Nacht werden die Celiks von Insekten und Fröschen heimgesucht.

Unmut über Krisenhilfe

Nach dem Erdbeben der Stärke 7,2 in der osttürkischen Provinz Van sind bislang 459 Tote geborgen worden. Etwa 2.300 Gebäude wurden zerstört. Zehntausende Menschen brauchen Hilfe. Doch die Lage der zwei Familien könnte nicht unterschiedlicher sein. Für Mehmet Sherif Celik ist ganz klar, warum. "Die Regierung kümmert sich nur um die Menschen im Zentrum", sagt er. Die Familie lebt nicht in der am schwersten betroffenen Stadt Ercis, sondern in einem kleinen Dorf etwa sechs Kilometer außerhalb.

Von den tausenden Zelten, die nach dem Beben nach Ercis gesandt wurden, sahen auch die 17.000 Bewohner des Dorfes Celebibag bislang nichts, beschwert sich der Bürgermeister des Ortes, Veysel Keser. "Nicht ein einziges Zelt", sagt er.

Die Großfamilie Akbulut wohnte in mehreren nun beschädigten Appartmentblocks in Ercis. Sonntagnacht schliefen sie in ihren Kleidern im Freien. Sie wagten es nicht, in ihre Wohnungen zurückzukehren um Decken zu holen. Doch am Montag gab es auch für sie Platz in einer der von der Regierung errichteten Zeltstädte. "Uns tun die Leute ohne Zelte leid. Die Regierung soll ihnen so schnell wie möglich helfen", sagt Mehmet Akbulut.

Kälte und Nachbeben erschweren Hilfsaktionen

Der türkische Rote Halbmond brachte am Dienstagabend mit Geleitschutz der Armee Zelte für Erdbebenopfer in die osttürkische Stadt Ercis. Der Konvoi sei von Tausenden Menschen erwartet worden, die sich in einer etwa einen Kilometer langen Schlange vor einer Wache der Gendarmerie aufgestellt hätten, berichtete ein Korrespondent der Nachrichtenagentur dpa.

"Ich warte seit mehr als 13 Stunden auf ein Zelt. Meine Familie besteht aus zehn Personen", sagte der 19-jährige Cemal Alam, ein Einwohner der bei dem Erdbeben schwer zerstörten Stadt. Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt hatten in den beiden Nächten zuvor viele Menschen im Freien übernachten müssen. Am Abend erschütterte ein heftiges Nachbeben der Stärke 5,4 die Region in der Provinz Van.

Wegen des Nachbebens revoltierten Häftlinge in Gefängnis der Stadt gegen ihre Wärter. Die Gefangenen hätten ein Feuer gelegt und die Wachmannschaften mit Messern und Scheren angegriffen, berichteten türkische Medien. Die Häftlinge protestierten demnach dagegen, dass sie ihre Zellen trotz des Nachbebens nicht verlassen durften. Mehrere Schließer seien verletzt worden. Die Behörden brachten zusätzliche Sicherheitskräfte in das Gefängnis, aus dem bei dem schweren Beben am Sonntag etwa 200 Gefangene durch ein Loch in einer Mauer entkommen waren.

Türkei bittet um Hilfe beim Wiederaufbau

Die türkische Regierung sucht nach dem schweren Erdbeben in der Provinz Van die Hilfe anderer Staaten für den Wiederaufbau. Für die Zeit nach den Rettungsarbeiten seien Zelte, Wohncontainer und Fertighäuser nötig, berichteten türkische Medien am Mittwoch unter Berufung auf Diplomaten. Die türkischen Botschaften sollten nun Gespräche mit den Staaten führen, die Hilfsangebote gemacht hatten.

[listbox:title=Mit Spenden helfen[Für ihre Arbeit bitten Diakonie Katastrophenhilfe und Caritas International um Spenden unter dem Stichwort "Erdbebenhilfe Türkei":##Diakonie Katastrophenhilfe: Konto 502 707, Postbank Stuttgart, BLZ 600 100 70##Caritas international: Konto 202, Bank für Sozialwirtschaft Karlsruhe, BLZ 660 205 00]]

Bisher soll die Türkei Israel um Hilfe gebeten haben. Israelische Medien berichteten am Dienstagabend übereinstimmend, das türkische Außenministerium habe Israel mitgeteilt, man brauche mobile Häuser für Menschen, die durch das Erdbeben obdachlos geworden seien. Zuvor habe die Türkei mehrere Hilfsangebote Israels abgelehnt. Für die angebliche Bitte um Unterstützung gab es zunächst keine offizielle Bestätigung. Die israelische Zeitung "Haaretz" berichtete in ihrer Online-Ausgabe, Außenminister Avigdor Lieberman habe Anweisung erteilt, die Hilfsausrüstung so rasch wie möglich auf den Weg zu bringen.

Die Türkei will auch mit internationalen Organisationen über Hilfen verhandeln. Bei dem Beben der Stärke 7,2 waren am Sonntag fast 2.300 Häuser zerstört worden. Rettungskräfte fanden bisher die Leichen von 459 Menschen.

Ohne Berechtigungsschein kein Zelt

Am Dienstag warten vor dem Büro des Gouverneurs in Ercis etwa 400 Menschen. Sie stellen sich an, um einen Berechtigungsschein zu erhalten. Ohne den bekommen sie kein Zelt. Nach sechs Stunden Wartezeit die Nachricht: Es gibt keine Zelte mehr. "Das Beben ist drei Tage her, aber wir haben von der Regierung keine Hilfe erhalten. Kein Zelt, kein Essen. Seit drei Tagen suchen wir nach Brot, aber alle Bäckereien haben geschlossen", sagt Mehmet Sherif. Auch er stand erfolglos in der Schlange. Anderswo in der Stadt verteilt die Regierung Lebensmittel. Von einem Verteilzentrum sieht man Männer mit vier oder fünf Laiben Brot weggehen.

Mehmet Shirin arbeitet am Bau. Sein eigenes Haus konnte er nicht erdbebensicher bauen. Er hatte kein Geld dafür. Für die Bauweise im Zentrum von Ercis hat er nur Kritik übrig. Im Stadtzentrum fielen sechs Hochhäuser in sich zusammen. "Die Baufirmen haben versucht, billig zu bauen, damit sie die Wohnungen billig verkaufen konnten," sagt er. Man verwendete zu dünne Stahlstreben zur Verstärkung, und sparte auch beim Zement, erzählt er.

Mehmet Shirin spricht damit ein großes Problem in der Türkei an. Trotz wiederholter schwerer Erdbeben mit hohen Opferzahlen werden Bauvorschriften nicht eingehalten. In der Provinz Van, wo auch Ercis liegt, starben bereits 1976 mehr als 5.000 Menschen bei einem Erdbeben und im Jahr 1999 forderten zwei Beben in der Nordwesttürkei 20.000 Opfer.

dpa/evangelisch.de