War das Erdbeben in der Türkei für Sie vorhersehbar?
Birger Lühr: Vorhersagen können wir Erdbeben nicht. Vorhersehen können wir - es ist die Frage, was wir darunter verstehen. Die Türkei ist ein Erdbebengebiet, und zwar eines, wo es heftig bebt. Und nicht nur an einer Stelle, sondern fast überall in der Türkei, und deshalb müssen die Menschen dort mit solchen Erdbeben rechnen.
Was genau ist im aktuellen Fall in der Türkei unter der Erdoberfläche passiert?
Lühr: Hauptantrieb dieser Bewegung ist die arabische Platte, die im Wesentlichen aus der arabischen Halbinsel besteht. Wir haben im Roten Meer einen mittelozeanischen Rücken, da wird neue Kruste erzeugt, und die drückt, zusammen mit Materialströmen im Erdmantel, die arabische Halbinsel nach Norden. Das führt dazu, dass wir an den Seiten dieser Platte so genannte Störzonen bekommen, wo sich mechanische Spannung aufbaut, die sich dann in Erdbeben entlädt.
Die arabische Platte bewegt sich mit ungefähr 25 Millimetern pro Jahr nach Norden, und trifft da auf die eurasische Platte. Sie drückt aber auf der westlichen Seite den anatolischen Block nach Westen raus, wodurch die so genannte nordanatolische Störzone entsteht. Im Osten drückt dann die Platte in den Iran hinein. In diesem Bereich treten sehr viele Beben auf, wir sprechen von einem richtigen Erdbebengürtel.
Wenn Sie die Störzonen so gut kennen - können Sie dann nicht genauer voraussagen, wann und wo es demnächst zu weiteren Erdbeben kommen könnte?
Lühr: Leider können wir nur sagen, dass es zu Erdbeben kommt. Aber unter einer Vorhersage verstehen wir die Angabe des Ortes, des Zeitpunktes und der Stärke in gewissen Fehlergrenzen, und das können wir nicht leisten. Hierfür müssten wir z.B. wissen, wie nahe das Gestein in der Erdkruste, in circa zehn Kilometern Tiefe, an der Bruchspannung ist, und das an jedem Punkt einer manchmal weit über 1000 Kilometer langen tektonischen Störzone. Wir können aber sagen, wo Erdbeben auftreten können, und wir können auch in etwa abschätzen, wie stark die Bebenerschütterungen an einem Ort der Erdoberfläche werden können. Diese Informationen fließen zum Beispiel in Baurichtlinien ein, damit Ingenieure die Gebäude und Anlagen so bauen können, dass sie den auftretenden Kräften standhalten können.
"Es kommt uns nur so vor, als wenn sie zunehmen.
Seit wir Erdbeben messen, ist nicht erkennbar,
dass sich was geändert hat."
Gefühlt gab es in letzter Zeit sehr viele Erdbeben: Haiti, Fukushima, Washington, Neuseeland, China, Türkei - häufen sich die Beben oder kommt uns das nur so vor?
Das kommt uns nur so vor. Wir haben statistisch und global gesehen ein Ereignis pro Jahr mit Magnitude acht und größer, und schon gute 16 pro Jahr mit Magnitude sieben und größer, das heißt also mehr als ein Ereignis von der Schwere des jetzigen Bebens pro Monat. Die Aufmerksamkeit in der Gesellschaft ist weltweit größer geworden. Wenn man durch die Medien von solchen Ereignissen häufiger hört, kommt einem das so vor, als wenn sie zunehmen. Aber zumindest seitdem wir Erdbeben messen - das ist noch nicht so lange, etwas mehr als 100 Jahre - und seitdem wir uns mit Erdbeben überhaupt beschäftigen - das geht schon zum Teil über mehr als tausend Jahre, denn wir können vorhistorische Beben ausgraben - ist eigentlich nicht erkennbar, dass sich da irgendwas geändert hat.
Forscher nennen immer wieder das schlimme Erdbeben von Lissabon von 1755 als Wendepunkt in der Betrachtungsweise solcher Katastrophen. Welche Erkenntnis ist durch Lissabon gewachsen?
Lühr: Noch 1705 hatte der Papst in Rom - nach einigen Schadensbeben mit wenigen Verletzten - jegliche Theateraufführungen und Musikveranstaltungen für fünf Jahre verboten, weil die Erdbeben ein Gotteszeichen waren, dass die Menschen ihr lasterhaftes Leben möglichst seinlassen sollten. Menschen wollen natürlich solche Phänomene, insbesondere die so stark in Gesellschaften und ins private Leben eingreifen, verstehen. Dafür braucht man Modelle. Für viele Phänomene gibt es mystische Modelle. Ich selber bin Geophysiker und arbeite deshalb an naturwissenschaftlichen Modellen.
Dieses Lissabon-Beben ist der Beginn einer anderen Sichtweise: Kluge Menschen haben da zum ersten Mal die Erkenntnis gewonnen, dass der Mensch eine wesentliche Rolle spielt bei der Ausbildung von solchen Katastrophen. Lissabon ist total zerstört worden, 60.000 Menschen verloren ihr Leben, und es ist von klugen Männern zu diesem Zeitpunkt erkannt worden, dass diese Katastrophe als solche menschengemacht ist und eigentlich nichts mit dem Naturereignis Erdbeben zu tun hat. Die Erde ist ein dynamischer Planet, sie ist in einem ständigen Wandel begriffen, nichts bleibt wie es ist, Gebirge wachsen und werden durch Wind und Regen wieder abgetragen. Das ist ein Prozess, der auf der Erde schon seit Jahrmillionen so abläuft, und er geht auch so weiter. Wir als Menschen müssen versuchen, unsere Gesellschaft so einzurichten, dass wir beim Auftreten von solchen Naturphänomenen möglichst wenig Schaden nehmen.
"Diese Phänomene regeln sich ja nicht nach
Menschenzeitaltern,
sondern nach geologischen Zeitaltern."
Sie sagen "menschengemacht". Aber gerade bei Erdbeben und anderen Naturkatastrophen kann man doch eben nicht sagen, dass sie menschengemacht sind.
Lühr: Natürlich ist die Katastrophe menschengemacht. Nehmen wir mal das Beben von Tokio im Jahr 1923: Der eigentliche Schaden durch die Erschütterung lag ungefähr bei zehn Prozent des Gesamtschadens. 90 Prozent waren Sekundärschäden, in erster Linie verursacht durch Feuer. Menschen, die sich auf Fluchtplätze gerettet hatten, wurden von den Winden, die durch diese Brände entstanden sind, ins Feuer hineingesaugt. Das war ein regelrechtes Inferno. Also, solche infernalischen Feuer sollte man gar nicht erst entstehen lassen.
Wenn man Häuser baut, die zusammenfallen, weil sie den Erschütterungen nicht standhalten, oder in Überflutungsgebieten Häuser baut, dann hat das mit der Natur nichts zu tun, sondern mit dem Menschen. Wenn man meint, man müsste auf Vulkanflanken wohnen, dann muss man auch damit rechnen, dass da ab und zu mal was runterkommt - vielleicht nur alle 300 Jahre. Diese Phänomene regeln sich ja nicht nach Menschenzeitaltern, sondern nach geologischen Zeitaltern. Der Mensch guckt immer nur auf sein kurzes Leben. Wir müssen einfach verstehen, dass die Erde ein dynamischer Planet ist und dass man da nicht alles tun und lassen kann wie man gerne möchte.
Können Sie ein paar konkrete Maßnahmen nennen, wie man sich besser auf Erdbeben vorbereiten kann, damit weniger Menschen zu Schaden kommen?
Lühr: Eine individuelle Vorbereitung wäre zum Beispiel, dass jeder zu Hause ein paar Wasserflaschen, eine Taschenlampe und ein Täschchen mit den notdürftigsten Dingen parat liegen hat. Es geht weiter über die Gesellschaft: Man muss sich im Vorhinein Gedanken machen. Wenn Feuer entstehen, wenn Häuser zusammenfallen: Was mache ich mit den Menschen? Wie versorge ich die Menschen, medizinisch und mit sonsigen Bedürfnissen, wo bringe ich sie unter?
Jetzt haben wir es dort in der Ost-Türkei mit Kälte zu tun. Der Winter steht vor der Tür. Zelte eignen sich vor Winterbeginn nicht so gut. In der Türkei haben sie aber Fertighäuser, die ich selber kenne, die man relativ schnell aufbauen und auch heizen kann. Man wird in kurzer Zeit diese vorgefertigten Hütten aufbauen, damit die Menschen dort auch eine Chance haben, vernünftig zu überleben. Solche Maßnahmen muss man im Vorfeld vorbereiten! Es reicht nicht wie auf Haiti, dass man nach dem Ereignis anfängt zu überlegen, wo man die Leute jetzt unterbringt, medizinische Hilfe herbekommt oder etwas Trinkbares.
"Unter Risiko verstehen wir Geowissenschaftler
die Verbindung von Gefährdung und Verwundbarkeit.
Das Risiko kann man mindern."
Deshalb: Katastrophen sind Menschenwerk. Man muss Probleme, die auftreten können, im Auge behalten und sich auf so ein Ereignis richtig vorbereiten, um eben Katastrophen zu vermeiden und den Schaden minimal zu halten. Wenn der Mensch einmal erkannt hat, in was für einer Gegend er wohnt und welche Gefahren ihm drohen, dann kann er sein Leben so einrichten, dass der Schaden im Ernstfall minimal bleibt. Daran arbeiten wir. Einerseits die Gefährdungseinschätzung zu verbessern, aber auch an der Entwicklung von Frühwarnsystemen, die dann ansprechen, wenn ein Ereignis passiert ist.
Im Falle von Erdbeben kann man die wenigen Sekunden, die einem zur Verfügung stehen nutzen, zum Beispiel um gefährliche Prozesse in der Industrie runter zu fahren. Um Ampelanlagen vor Brücken oder Tunneln auf Rot zu schalten, damit keiner mehr auf die Brücke oder in den Tunnel fährt, oder um Hochgeschwindigkeitszüge anzuhalten. Hat man im Vorhinein z.B. Gasleitungen stückweise mit Ventilen ausgerüstet, so lassen die sich diese automatisch schließen, damit, falls ein Rohr bricht, sich nur die 200 oder 300 Meter Gasleitung entleeren und nicht ständig über Gasleitungen Feuer noch angeheizt werden.
Unter Risiko verstehen wir Geowissenschaftler immer die Verbindung von Gefährdung und Verwundbarkeit. Das Risiko kann man mindern. Gegen die Gefährdung durch Erdbeben und Vulkane kann man nichts tun, weil die Kräfte die dahinter stehen zu groß sind. Wir können die Störzonen nicht festdübeln oder sie mit Seilen an der Bewegung hindern, wir können keinen Topf über einen Vulkan stülpen, um zu verhindern, dass aus ihm Gefährliches rauskommt. Das funktioniert leider nicht.
Birger Lühr ist Geophysiker beim Deutschen Geoforschungszentrum in Potsdam.