"Militär mit Befreiung zu verknüpfen, fällt mir schwer"
Nach dem Tod von Muammar Gaddafi ist Renke Brahms, der Friedensbeauftragte des Rates der EKD, überrascht, wie schnell sich die Situation entwickelt hat. Dennoch bleibt er dabei: Der Militäreinsatz in Libyen sei nicht der richtige Weg gewesen, um Gaddafi zu vertreiben. Frieden könne es in Nordafrika nur durch wirtschaftliche Gerechtigkeit geben.
24.10.2011
Die Fragen stellte Anne Kampf

Gaddafi ist tot, eine Ära der Unterdrückung zu Ende. Freuen Sie sich mit den Libyern?

Renke Brahms: Als Christenmensch kann ich mich über den Tod eines Menschen nicht freuen. Ich freue mich aber mit der libyschen Bevölkerung, dass es gelungen ist, ein System der diktatorischen Unterdrückung zu beenden. Die Umstände des Todes von Gaddafi sind nach wie vor nicht vollkommen geklärt. Für die Aufarbeitung und Glaubwürdigkeit einer neuen Regierung wäre es gut gewesen, Gaddafi hätte sich vor Gericht verantworten müssen.

Hat der NATO-Einsatz Ihrer Einschätzung nach zur Befreiung Libyens beigetragen?

Brahms: Zunächst einmal ist zu sagen, dass es nur einige Staaten der NATO waren, die hier militärisch agiert haben. Dazu kamen einige Staaten, die der NATO nicht angehören. Eine militärische Aktion mit dem großen Begriff der Befreiung zu verknüpfen, fällt mir schwer. Noch weiß ja niemand, wie es weiter gehen wird. Zur jetzigen Situation der Niederlage des Gadaffi-Regimes hat der Angriff sicher beigetragen. Welche Folgen er langfristig haben wird, ist heute nicht abzuschätzen.

Im März haben Sie im evangelisch.de-Interview die Militärintervention kritisiert und gesagt, "Gaddafi lässt sich so nicht vertreiben." Damit lagen Sie wohl falsch…

Brahms: Ich gebe zu, dass ich überrascht bin, wie schnell sich die Situation entwickelt hat. Allerdings muss dazu gesagt werden, dass die Staaten, die militärisch eingegriffen haben, weit über das Mandat des UNO Sicherheitsrates hinausgegangen ist. Sie sind in dem Konflikt Partei geworden, indem sie in massiver Weise Angriffe geflogen haben. Eine Flugverbotszone durchzusetzen und die Zivilbevölkerung z.B. in Bengasi zu schützen, war nach wenigen Tagen erreicht und hätte den Abbruch oder zumindest die Aussetzung der Angriffe zur Folge haben müssen. Insofern ist wieder einmal deutlich geworden, dass militärische Interventionen ihre eigene Logik haben, die kaum zu stoppen ist.

Ist der Militäreinsatz im Nachhinein durch das Ergebnis gerechtfertigt? Heiligt der Zweck die Mittel?

Brahms: Nein. Noch einmal: wir wissen noch nicht, wie sich die Situation weiter entwickelt. Und selbst, wenn ein demokratischer Staat entsteht, muss dieser Staat mit dem Tod zehntausender Menschen umgehen, die auch durch die Angriffe der militärischen Intervention zu beklagen sind. 

Als Alternativen zum Militäreinsatz hatten Sie in unserem Interview ein Embargo und Verhandlungen für einen Waffenstillstand vorgeschlagen. Lassen sich Diktatoren wirklich so vertreiben?

Brahms: Diktatoren sollten vor allem keine Unterstützung durch demokratische Staaten erhalten, indem Öl gekauft wird und Waffen geliefert werden. Der Westen hat Gadaffi doch über Jahre gestützt, unter anderem, um Flüchtlinge von Europa fernzuhalten. Das ist doch der eigentliche Skandal dieser Entwicklung! Gerade das Beispiel Libyen zeigt doch die Kurzsichtigkeit einer an wirtschaftlichen Interessen ausgerichteten Politik. Wenn es dann zu spät ist, wird das Militär gerufen. Ich bleibe bei dem, was ich gesagt habe: Die politischen und diplomatischen Initiativen und Alternativen vor einem militärischen Eingreifen sind meines Erachtens nicht ausgeschöpft worden.

Welche Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft brauchen die Libyer jetzt?

Brahms: Libyen steht vor einer Zäsur. Geht es in Richtung eines demokratischen Staates oder zerfällt das Land in einen Bürgerkrieg verschiedener Stämme und Clans? Deshalb dürfen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit und das Interesse der Staaten nicht nachlassen. Dazu gehört die schnelle humanitäre Hilfe und die politische Unterstützung beim Aufbau von demokratischen Strukturen. Libyen ist mit den Bodenschätzen ein reiches Land. Nun kommt es darauf an, diesen Reichtum auch der Bevölkerung zukommen zu lassen. Das muss Ziel einer neuen Regierung sein, die von der Weltgemeinschaft akzeptiert wird. Und es muss Ziel von wirtschaftlichen Abkommen sein, die mit den westlichen Staaten über Öl- und Gaslieferungen geschlossen werden.

Was ist die Lektion, die aus der Entwicklung in Libyen zu lernen ist?

Brahms: Die Entwicklung in Libyen ist Teil eines Gesamtprozesses in der Region. Für andere Staaten und deren Führer wie Assad in Syrien, für den Jemen oder auch langfristig für Saudi-Arabien muss es ein Zeichen sein, dass ein Regieren gegen die Bevölkerung keine Zukunft hat. Die Lektion für den Westen heißt: Die Unterstützung solcher Staaten darf nicht weiter gehen. Und: Frieden wird es in dieser Region auch angesichts er großen Zahl junger Menschen nur mit wirtschaftlicher Gerechtigkeit geben. Das ist die eigentliche große Verantwortung der westlichen Welt für diese Region.


Pastor Renke Brahms ist Friedensbeauftragter des Rates der EKD und Schriftführer in der Bremischen Evangelischen Kirche. Foto: epd-bild/Tristan Vankann