Noch ist das Gaddafi-Regime nicht völlig beseitigt und Libyen - fünfmal so groß wie Deutschland - noch weit von demokratischen Verhältnissen entfernt. Dennoch machen sich Viele bereits Gedanken über die Zeit nach Gaddafi und darüber, wie eine demokratische Gesellschaft in Libyen aussehen könnte. evangelisch.de sprach mit Dr. Jonas Wolff von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konflikforschung über Chancen und Risiken dieses Prozesses und die Frage, wie die westlichen Regierungen agieren sollten.
Herr Wolff, die libysche Gesellschaftsordnung muss vollkommen neu aufgebaut werden. Gibt es Erfahrungswerte aus vergleichbaren Ländern, wie das am besten zu bewerkstelligen ist?
Jonas Wolff: Was man weiß, ist, dass das außerordentlich schwierig ist. Wenn wir über den Übergang von einem nichtdemokratischen zu einem demokratischen Regime sprechen, ist eine zentrale Erkenntnis, dass das in erster Linie ein innergesellschaftlicher Prozess ist. Die Möglichkeiten, von außen darauf einzuwirken, sind in aller Regel äußerst begrenzt und das Risiko, dabei mehr Schaden als Nutzen anzurichten, ist durchaus hoch. Wenn solche Prozesse ohnehin von innen getrieben in Richtung Demokratie streben, sind sie am besten zu unterstützen. Wenn es in eine andere Richtung geht, ist es allerdings äußerst schwierig, da etwas von außen zu tun. Ich bin kein Libyen-Experte, aber mit Sicherheit gilt dort auch, was man recht allgemeingültig sagen kann: Demokratisierung verläuft unsicher, ergebnisoffen und konfliktträchtig.
Was heißt das genau?
Wolff: Unsicher heißt: Wir wissen einfach nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Demokratie bedeutet Selbstbestimmung. Demokratisierung heißt, dass diverse gesellschaftliche Kräfte und politische Akteure Mitsprache erlangen. Der Verlauf ist davon abhängig, was die Akteure "on the ground", vor Ort, an Zielen und Ideen verfolgen und welche Interessen sie haben. Ergebnisoffen heißt: Wir wissen nicht, was dabei herauskommt. Das zeigt die Erfahrung mit Demokratisierungsprozessen weltweit sehr eindeutig. Der Versuch, ein demokratisches Regime zu etablieren, mündet eher in Ausnahmefällen als in der Regel in einer stabilen, liberalen und repräsentativen Demokratie.
Demokratische Regimes
sind eher die Ausnahme
Wann hat das geklappt?
Wolff: Die "dritte Welle der Demokratisierung" lief von Mitte der Siebziger- bis Anfang der Neunzigerjahre in Südeuropa, Lateinamerika, aber auch in Mittel- und Osteuropa sowie einigen afrikanischen und asiatischen Staaten ab. Von all diesen Ländern gibt es nur eine gewisse Anzahl, die man heute als stabile, liberale, repräsentative Demokratie bezeichnen würde. Es existiert eine ganze Vielfalt von Regierungsformen. Diese Prozesse können scheitern, sie können in ein neues, aber undemokratisches Regime oder in teilweise demokratische Regimes münden. Häufig sind es sogenannte "hybride Regime", also Staatsgebilde, die demokratische Elemente aufweisen wie Wahlen, aber auch Elemente, die nicht-demokratisch, offen undemokratisch oder autoritär sind. Die Wissenschaft nennt das zum Beispiel "defekte Demokratien" oder "semi-autoritäre Regime".
Ist überhaupt eine Art Musterdemokratie als Empfehlung für Libyen denkbar?
Wolff: Selbst ausgewiesene Libyen-Experten dürften derzeit nicht benennen können, welche Staatsform in der dortigen Gesellschaft funktionsfähig wäre. Das ist ein Such- und Aushandlungsprozess, der konfliktträchtig und gewaltsam sein kann. Denn das ist der dritte Punkt: Demokratisierung birgt Gewaltrisiken, weil es um Umverteilung politischer Macht geht. Es gibt Gewinner, es gibt Verlierer und es gibt Auseinandersetzungen darüber, wer es schafft, künftig an den Schaltstellen der Macht zu sitzen.
Im Moment gibt es in Libyen kaum ordnende Institutionen außer bewaffneten Gruppen. Dem "Nationalen Übergangsrat" gehören alle möglichen Leute an. Wie soll daraus eine gemeinsame Linie entstehen?
Wolff: So etwas wie in Libyen kennt man auch von anderswo. Generell weiß man, dass Demokratisierung dann besonders schwierig ist, wenn gleichzeitig ein Staatsaufbau, ein "state-building" ablaufen muss. Das ist deutlich schwieriger, als wenn ein leidlich funktionierender Staatsapparat existiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass das klappt, ist niedriger, das Gewaltrisiko ist höher und die Einwirkungsmöglichkeiten von außen sind geringer.
Frühe Wahlen sind riskant -
späte ebenso
Der libysche Botschafter in Rom hat nicht nur eine schnell einzusetzende provisorische Regierung, sondern auch Wahlen für eine Verfassungskommission innerhalb eines Monats angekündigt. Ist das realistisch?
Wolff: Es zeigt jedenfalls ein Grunddilemma. Die Forschung sagt, es kann riskant sein, frühe Wahlen auszurufen, weil sich politische Kräfte noch nicht vernünftig organisieren können. Das Risiko, dass sich zum Beispiel der Bürgerkrieg fortsetzt, ist hoch, oder die aktuell an die Macht drängenden Rebellen setzen sich einfach durch. Andererseits ist das Rebellengremium, auch wenn es sich im Kampf durchsetzt, durch nichts legitimiert. Also ist der Bedarf nach schnellen Wahlen sehr hoch, um sich auf diese Legitimität berufen zu können. Beides - schnelle Wahlen und das Abwarten - birgt Risiken. Aus diesem Dilemma gibt es keine einfachen Auswege.
Trotz geringer Einflussmöglichkeiten Dritter hat der deutsche Außenminister bereits die Bereitschaft Deutschlands signalisiert, in einer "Schlüsselrolle" die Demokratisierung in Libyen zu unterstützen. Ist solch ein Angebot überhaupt gefragt?
Wolff: Für den Export eines politischen Systems gibt es in aller Regel keinen Bedarf. Für Unterstützung durchaus.
Etwa in Form von Wahlbeobachtern?
Wolff: Unterstützung kann verschiedene Formen annehmen, zum Beispiel Wahlbeobachtung. Es ist extrem wichtig, dass man als Externer nicht der Überzeugung ist, man habe irgendein Patentrezept. Man kann überhaupt nur auf der Basis intimer Landeskenntnisse helfen und mit der gebotenen politischen Zurückhaltung. Unterstützung kann auch heißen, großzügig die eigenen Märkte zu öffnen, dabei zu helfen, die Binnenwirtschaft zu fördern und soziale Probleme anzugehen. Auch dass man nicht in Verteilungskämpfe einsteigt und etwa versucht, sich Ölfelder zu sichern und die Umbruchssituation zu nutzen, um europäischen Unternehmen neue Investitionsziele und Märkte zu erschließen. Denn Demokratisierung ist das Eine - es geht aber immer auch um wirtschaftliche Verteilungsfragen. Man muss schauen: Was wollen die Akteure vor Ort? Was erwarten die von uns?
Demokratie braucht
auch Stabilität
und materielle Sicherheit
Die Wünsche in anderen Ländern sind für uns nicht immer leicht nachvollziehbar. Vielen in der ehemaligen Sowjetunion gilt Michail Gorbatschow nicht als der große Demokratisierer und Friedenskämpfer, sondern sie trauern der verloren gegangenen Stabilität früherer Zeiten nach.
Wolff: Das finde ich gar nicht schwer nachvollziehbar. Die erfolgreiche Etablierung der Demokratie in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg hatte zumindest auch damit zu tun, dass Demokratie in den Köpfen der Menschen mit dem Wirtschaftswunder verbunden wurde. Hätte es nach dem Zweiten Weltkrieg ein Jahrzehnt des wirtschaftlichen Niedergangs gegeben, dann wäre vermutlich die Zustimmung zur Demokratie deutlich geringer gewesen. In der Tat sind Stabilität, Sicherheit und möglichst materieller Fortschritt für die Menschen bedeutsam. Wenn die Demokratisierung eines politischen Systems damit assoziiert wird, dann führt das zu größerer Zustimmung zu diesem System. Auch das ist keine Garantie - aber wenn es andersherum läuft, dann ist klar, dass die Demokratie Probleme hat.
Libyen ist freilich als Erdölexporteur ein reiches Land. Da kann es doch den Menschen nach der Revolution wirtschaftlich kaum schlechter gehen als vorher.
Wolff: Die Erfahrung zeigt: Besonders viel Verfügung über Öl heißt nicht, dass Demokratie besonders leicht zu etablieren und zu halten ist. Das Öl erhöht bei allen den Anreiz, die Kontrolle über den Staat zu erlangen. Insofern ist es von zentraler Bedeutung, inwieweit es jetzt gelingt, Beteiligungsformen zu etablieren, mit denen tatsächlich große Teile der Bevölkerung zufrieden sein können.
Anm. d. Red.: Dieser Beitrag erschien erstmals am 24. August 2011 auf evangelisch.de.
Dr. Jonas Wolff ist wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der regierungsunabhängigen Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt. Zu seinen Hauptarbeitsgebieten zählt die Demokratieförderung. Die Jahreskonferenz der HSFK am 28. September 2011 hat das Thema "Der arabische Frühling und die Demokratieförderung".