Wenn die Schweiz am 23. Oktober ihre Vertreter in den National- und den Ständerat (große und kleine Kammer) wählt, ändert sich aus deutscher Perspektive des Auslands nichts. Bereits eine Änderung von zwei Prozent des Wähleranteils einer Partei gilt in dem politisch extrem stabilen Land als Sensation, und zu mehr wird es gemäß den jüngsten Wahlprognosen bei den großen Parteien wohl nicht kommen.
0,4 Prozentpunkte Zuwachs auf 29,3 Prozent wird der größten Partei, die Schweizerische Volkspartei (SVP), vorausgesagt. Auf eine Steigerung in ähnlicher Höhe dürfen die Sozialdemokraten (SP) hoffen, die bei den letzten Wahlen auf 19,5 Prozent gesunken sind. Mit leichten Verlusten von 0,3 Prozent müssen dagegen die Christlichen Volkspartei (CVP) und die Grüne Partei Schweiz (GPS) mit Wähleranteilen von 14,5 Prozent beziehungsweise 9,6 Prozent rechnen.
Die größte Verliererin dürfte einmal mehr die Freisinnig Demokratische Partei (FDP) sein. Mit einem prognostizierten Verlust von 2,6 Prozent auf 15,2 Prozent kann sie ihren langjährigen Niedergang auch dieses Jahr nicht stoppen. Vergleichsweise markante Gewinne von 3,5 Prozent können einzig die Grünliberale Partei (GLP) und die Bürgerlich Demokratischen Partei (BDP) erwarten. Beides sind Kleinparteien, die sich von der GPS beziehungsweise der SVP abgespalten haben.
Über viele Jahre hinweg massive Veränderungen der Parteienlandschaft
Passend zu den nur leichten Verschiebungen der Wähleranteile läuft in der Schweiz auch der Wahlkampf entsprechend flau. Hinzu kommt, dass die Themen, auf die die Politstrategen langfristig setzten, den Parteien abhanden gekommen sind. Über Jahre konnte die SVP mit ihrer Kritik an der vermeintlich zu liberal gehandhabten Einwanderungspolitik punkten.
Heute werden ihre Anliegen zum Teil von andern bürgerlichen Parteien mitgetragen, während die Linke alles daran setzt, sich nicht auf eine Debatte über die Ausländerpolitik einzulassen, was seit der Reaktorkatastrophe in Fukushima gut klappte. Über Monate bestimmte der Ausstieg aus der Atomkraft die Politagenda. Diesen wirklich in Wählerstimmen umzumünzen, gelang den Grünen, der SP und CVP allerdings nicht. Hinzu kommt, dass seit Sommer mit der Eurokrise und dem die Schweizer Exporte hemmenden starken Franken vielmehr wirtschaftliche Sorgen im Vordergrund stehen.
So wenig sich aller Voraussicht nach mit den Wahlen vom 23. Oktober in der Schweizer Politik ändern wird, so sehr haben sich langfristig die politischen Kräfteverhältnisse in der Schweiz verschoben. Während den vergangenen 20 Jahre konnte die SVP ihren Wähleranteil von 11,9 auf 28,9 Prozent massiv steigern. Das ist für Schweizer Verhältnisse einmalig – und das Halten ihres früheren Resultates kommt erst recht einer kleinen Sensation gleich.
Beispielloser Aufstieg mit populistischer Ausländer-Polemik
Die SVP distanziert damit die zweitplatzierten Sozialdemokraten um beinahe 10 Prozent. Ihren Aufstieg hat die Partei zu einem großen Teil dem 71-jährigen Christoph Blocher zu verdanken, der vor vier Jahren aus dem Bundesrat (Regierung) abgewählt wurde und jetzt wieder für einen Sitz im Ständerat kandidiert. Der Unternehmer hatte seit den 1990er-Jahren die SVP mit einem geradezu missionarischen Eifer auf das Ausländerthema getrimmt. Populistisch geschickt verstand er es, die Sorgen vieler Bürgerinnen und Bürgern für seine Zwecke zu nutzen. Wenn sich die SVP auch meistens darauf beschränkte, Gesetzesvorlagen zu bekämpfen, so setzte sie dennoch politisch die Themen.
Zur reformierten Kirche hat die SVP ein gespaltenes Verhältnis. Die ehemalige Bauern- und Gewerbepartei war lange Zeit nur in reformierten Kantonen aktiv. Viele ihrer Exponenten sind auch traditionell mit der reformierten Kirche verbunden. So stammt Christoph Blocher aus einem Pfarrhaus und gibt als einen seiner wichtigsten Gesprächspartner seinen Bruder und pensionierten Pfarrer Gerhard Blocher an. Auch können Kirchgemeinden auf dem Land bei der SVP-Wählerschaft auf Rückhalt zählen. Politisch hingegen sind die Leitungen sowohl der reformierten als auch der katholischen Kirche selten einer Meinung.
Disput zwischen Volkspartei und Reformierter Kirche
Als einzige Schweizer Partei definiert die SVP in ihrem Parteiprogramm ihr Verhältnis zum Christentum. Sie bekennt sich zur "abendländisch-christlichen Kultur der Schweiz", hält aber fest: "So wenig Politiker von den Kanzeln predigen sollen, sollen Prediger von den Kanzeln politisieren." Explizit verurteilt die SVP "einseitige, linksideologische Stellungnahmen von Kirchenfunktionären, denn sie spalten damit unsere Volkskirchen".
Entsprechend zurückhaltend und vorsichtig gibt sich die reformierte Kirche im Wahlkampf. In einem Streitgespräch mit dem SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli nahm der Ratspräsident des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes, Gottfried Locher, allerdings Stellung. Locher erklärte: Wenn die SVP die Kirche als Trägerin des christlich-abendländischen Kulturguts sehe und als Sinnstifterin und Wertevermittlerin akzeptiere, könne dies die Kirche nur tun, "wenn man ihr einen politischen Auftrag zugesteht. Wir sind in der Nachfolge von Jesus Christus, der in seiner Zeit prononciert politisch gesprochen hat". Parteipolitik sei nicht Sache der Kirche, räumte auch Locher ein, betonte jedoch zugleich: "Ohne Aussagen zum Hier und Heute ist das Evangelium von Jesus Christus kraftlos. Das Heil liegt nicht nur in der Zukunft, es beginnt jetzt. Und damit es beginnt, haben sich Christinnen und Christen gesellschaftlich einzumischen."
Die Bischöfe melden sich zu Wort
Prominent in den Wahlkampf eingeschaltet hat sich die Schweizer Bischofskonferenz (SBK). Mit ihrer Botschaft zum Nationalfeiertag am 1. August 2011 unterstrichen die Bischöfe, die Kirche sei selbstverständlich politisch. "Die große Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer sind Getaufte", schreiben die Bischöfe und folgern: "Wenn sie als Bürgerinnen und Bürger unseres Landes an die Urne gehen, engagieren sie sich politisch. Viele Getaufte übernehmen im Staat Verantwortung."
Bei unverbindlichen Worten ließ es die SBK nicht bewenden. Ende August verurteilten zwei Fachgremien der SBK ein Plakat als "Hetzinserat", mit dem die SVP für ihre Volksinitiative "Masseneinwanderung stoppen!" Werbung macht. Gleichzeitig appellierten sie an die Medien, das Plakat mit dem Titel "Kosovaren schlitzen Schweizer auf" nicht zu publizieren. Aber so pointiert diese Stellungnahme auch ist: Daran, dass die SVP die größte politische Kraft in der Schweiz bleiben wird, wird sie wohl nichts ändern.
Aktualisierung vom Sonntagabend: Bei den Parlamentswahlen in der Schweiz sind zwei neue Parteien der politischen Mitte gestärkt worden. Der Höhenflug der national-konservativen Schweizerischen Volkspartei SVP wurde gestoppt. Die SVP büßte Stimmen ein, bleibt allerdings stärkste Partei. Das geht aus einer am Abend veröffentlichten ersten Hochrechnung hervor. Zwei neue Parteien können vermutlich rund zehn Prozent der Wählerstimmen gewinnen. Sozialdemokraten und Grüne verlieren bis knapp über ein Prozent. Die Christdemokraten büßen genau wie die liberale FDP über zwei Prozent ein.
Matthias Herren (49) ist Pfarrer und Journalist, lebt in der Nähe von Zürich und schreibt regelmäßig für die "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) und die "NZZ am Sonntag".