"Occupy": Die Demonstration für eine neue Welt
Mehr als 5.000 Menschen protestierten am vergangenen Samstag vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt. In Windeseile ist jetzt dort ein Zeltdorf entstanden: Rund 100 Anhänger von "Occupy Frankfurt" ("Besetzt Frankfurt") sind geblieben, um Tag und Nacht gegen die Auswüchse des Finanzsystems zu demonstrieren. Aber wie lauten die Forderungen der Bewegung, die auf der New Yorker Wall Street begann und sich jetzt global ausbreitet? Und haben sie eine Chance?
21.10.2011
Von Franziska Fink und Hanno Terbuyken

Jan steht am Infostand von "Occupy Frankfurt", verteilt Flyer und beantwortet Fragen von neugierigen Passanten. Das ist gar nicht so einfach, denn die "Occupy"-Bewegung hat keine klar formulierten Ziele, sondern ihrem Protest liegt vor allen Dingen die Erkenntnis zu Grunde, dass es so nicht weitergehen kann. Das, was alle vereint, so meint Jan, ist "der Wunsch, dass Veränderung unausweichlich ist. Die gegenwärtige Entwicklung unserer Gesellschaft, auch global gesehen, können wir nicht mehr beibehalten."

Dadurch, dass die "Occupy-Bewegung" für jeden offen sein möchte und dazu auffordert, die Ziele mit zu formulieren, spricht sie eine breite Masse an, ist aber gleichzeitig auch schwer zu fassen. Die 22-jährige Studentin Katharina sieht das ähnlich: "Ich habe keine genaue Vorstellung, was genau geändert werden muss, aber das Gefühl, das etwas schief läuft in unserer profitorientierten Gesellschaft, habe ich schon lange." Deswegen ist sie heute spontan im Frankfurter Camp vorbeigekommen und schaut, was vor Ort passiert und ob sie mithelfen kann.

Dass es keine einheitlichen Forderungen gibt, sieht Jan positiv, er will vor allen Dingen erreichen, dass sich die Leute auf der Straße erstmal ihrer politischen Verantwortung bewusst werden: "Wenn wieder Verantwortung übernommen werden soll, damit wir in einer anderen Gesellschaft leben, die auch zukunftsfähig ist, dann müssen wir die Verantwortung übernehmen, wir müssen die Demokratie wieder leben und die Rahmenbedingungen gestalten, deswegen müssen wir anfangen nachzudenken." Und dafür müssen erst einmal die Voraussetzungen geschaffen werden.

"Eine bessere Welt ist kein Ziel"

Doch es gibt auch Kritik: "Ihr verändert doch nichts wirklich. Ihr protestiert doch nur gegen Banken, weil das medienwirksam ist", empört sich etwa eine Passantin. "Aber wir protestieren doch gar nicht gegen Banken, sondern für eine neue Welt", entgegnet ihr eine Demonstrantin.

Diese Kritik der Passantin teilt auch Investmentbanker Gerald Hörhan. Er kommt aus genau der Finanzwelt, gegen die sich die "Occupy"-Bewegung formiert hat, und vertritt derzeit öffentlichkeitswirksam die These, die jungen Protestierer hätten keinen Plan: "'Für eine bessere Welt' ist kein Ziel." Die Jugend solle selbst Hand anlegen statt planlos zu protestieren, aber vor allem müssten sie sich darüber informieren, gegen was sie eigentlich sind. In Frankreich, Spanien, England seien die Proteste bereits verpufft, in Deutschland erwartet Hörhan das gleiche. Die Ziele seien zu unklar, als dass sich daraus eine erfolgreiche, die Gesellschaft verändernde Bewegung entwickeln könnte.

Trotzdem sympathisiert der Harvard-Absolvent Hörhan mit der Protestbewegung, sagt er. Denn "die Leute auf der Straße wissen nicht, was passiert, und so lange die Politik keine Antworten gibt, werden die Leute weiter protestieren". Er sieht die Verantwortung nicht bei den Bänkern, sondern bei der Politik. Von dort aus müssten die Finanzen der Länder restrukturiert, "heilige Kühe" geschlachtet werden. Wichtig sei, die wirtschaftliche Glaubwürdigkeit der Länder schnell wieder herzustellen statt sich zu viel Zeit zu lassen und die Gelddruckmaschinen anzuwerfen.

Da ist der Investmentbanker dann auf einmal ganz dicht bei den Protestierern, die er kritisiert. Denn zumindest Jan im Frankfurter Protestcamp hat ganz konkrete Forderungen an Politiker: Sie dürften es nicht länger als ihre Hauptaufgabe sehen, ständig "sehr viel mehr Profit zu ermöglichen". Gewisse Bereiche der Gesellschaft müssten aus der Profitlogik herausgelöst werden, zum Beispiel das Gesundheitssystem. "Wie kann es denn sein, das wir ein Gesundheitssystem haben, welches von den Rahmenbedingungen her daran angelegt ist, um überleben zu können, dass es möglichst viele Kranke gibt?" regt er sich auf: "Das ist doch Wahnsinn, wie absurd geht es denn noch?"

Die Offenheit der Debatte ist ihr Vorteil und ihr Problem

Es geht ihm und den anderen Protestierern um politische Selbstbestimmung, eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte, Gerechtigkeit, reale Lohnsteigerung, freie Bildung, ein selbstbestimmtes Leben und, und, und. Aber vor allen Dingen müssten solche Themen und Regelungen, die immer als unveränderlich dargestellt werden, wieder offen zur Diskussion stehen und nicht von einer Neu- oder Umgestaltung ausgeschlossen werden. Das ist Demokratie pur – und eine Form der offenen Debatte, die dezentral funktioniert, vor Ort wie über das Internet.

Im "Occupy Frankfurt"-Camp hängen Artikel über die Proteste an einer Wäscheleine aus. Foto: Franziska Fink

Daher ist das Protest-Camp auf dem Willy-Brandt-Platz, direkt vor der Europäischen Zentralbank, natürlich auch vernetzt. Es gibt W-Lan vor Ort, eine eigene Website und ein eigener Twitter-Account wurden in kürzester Zeit eingerichtet. Die Kommunikation nach außen und über soziale Netzwerke sieht Jan als einen Knackpunkt, der der "Occupy"-Bewegung helfen kann, längerfristig und weltweit erfolgreich zu sein: "In dem Moment, wo sich Kommunikation über technische Weiterentwicklung vereinfacht, können wir uns immer mehr vernetzen und Ideen austauschen und darüber sind wir auch effizienter, weil es immer mehr Menschen gibt, die diese Ideen dann auch aufgreifen."

Vor Ort funktioniert der Ideenaustausch jedenfalls schon mal gut. Wenn man durch das "Occupy Frankfurt"-Camp geht, dann stößt man tatsächlich auf viele Diskussionsgruppen, die sich spontan aus Passanten, Neugierigen und Protestlern gebildet haben. Es wird viel argumentiert und geredet - über Europa, die Schuldenkrise, aber auch über Atomkraft und wie die Zukunft einer menschlicheren Gesellschaft aussehen könnte. Was auffällt, ist, dass sich die Leute tatsächlich gegenseitig zuzuhören scheinen und sich ausreden lassen. Die Aufforderung, dass sich jeder beteiligen kann und mitdiskutieren soll, zieht viele an, das meint auch Jan: "Ganz viele Leute interessieren sich für unsere Bewegung und treten in Dialog mit uns. Viele Leute bieten auch Hilfe und Unterstützung an, und durch all das findet ein breiter Gedankenaustausch statt."

Mitmachen geht vom Diskutieren bis zu Aspirin

Genau dafür haben die Anhänger von "Occupy Frankfurt" ihr Zeltlager auf die Beine gestellt: Dixi-Klos mussten organisiert werden, aktuelle Artikel zur weltweiten Occupy-Bewegung werden regelmäßig ausgedruckt und an einer Leine, die sich quer durch das Camp zieht, aufgehängt, eine offene Küche, wo Kaffee ausgeschenkt wird und ein Infostand wurden eingerichtet. Alles, um eine offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen.

Was am Ende dabei rauskommt, ist heute noch nicht absehbar. Investmentbanker Gerald Hörhan ist jedenfalls trotz aller Forderungen an die Politik eher skeptisch. Das Finanzsystem ist hochkomplex, sagt er: "Die so genannten 'bösen Finanzmärkte' sind eigentlich jeder." Über Rentenfonds, über Versicherungen, über angelegtes Geld ist fast jeder irgendwie beteiligt am System. Und selbst der Einluss der größten Player, sei es Berlusconi oder Goldman Sachs, sei begrenzt, vor allem durch die Komplexität des gesamten Systems. Hörhan vergleicht das Finanzsystem mit einem großen, trägen Dampfer: Jede Richtungsänderung braucht sehr lange, und das auch nur, wenn alle Kapitäne in die gleiche Richtung wollen.

Wer mitmachen will, kann auch einfach zum Kaffee ausschenken kommen. Gespräche ergeben sich von ganz allein. Foto: Franziska Fink

Darin liegt doch wieder eine Chance für die weltweite Protestbewegung. Denn politischer Wille und vielleicht auch ein bisschen mehr Rücksicht in den Chefetagen der Geldbeweger muss von außen kommen. Das Camp in Frankfurt ist ein Teil davon, ein Teil, bei dem jeder mithelfen kann. Eine Liste, die sowohl vor Ort im Protestcamp ausliegt als auch auf der Website occupyfrankfurt.de veröffentlicht wird, zeigt an, was aktuell besonders dringend gebraucht wird. So kann dann Untertstüzung auch aussehen: Rentner, Hausfrauen, Büroangestellte und Studenten bringen Decken und Kaffee vorbei, Klopapier und sogar Aspirin für die in der Kälte ausharrenden und verschnupften Protestler.

"Die Welt schaut auf uns"

Selbst das Schauspiel Frankfurt, vor deren Haustür das Protestcamp aufgebaut ist, zeigt sich solidarisch: Die Städtischen Bühnen haben ihre Kantine, die eigentlich nicht öffentlich ist, für die Anhänger der Occupy-Bewegung geöffnet. "Wir schließen uns damit keiner politischen Haltung an, sondern finden einfach das bürgerliche Engagement von Menschen unterstützenswert", meint Pressesprecher Nils Wendtland dazu. "Die Temperaturen sinken, es regnet und die sollen hier eine Anlaufstelle haben." Ärger befürchten die Verantwortlichen der Städtischen Bühnen nicht. "Die sind sehr friedlich, sehr freundlich und es ist eine angenehme Nachbarschaft", so Wendtland.

Ursprünglich war die Protestaktion bis zum 19. Oktober geplant. Das Ordnungsamt hat laut "Occupy Frankfurt" die Genehmigung für das Zeltlager jedoch bis zum 29. Oktober verlängert. Für kommenden Samstag, am 22. Oktober, ist die nächste große Demonstration geplant. Laut der Facebook-Seite von "Occupy Frankfurt" soll die ein richtig großes "Happening" werden – mit Bands, DJs und Künstlern. Denn die Protestler sind sich sicher: "The whole world will be watching us" – die Welt schaut zu. Die Chefetagen der Banken hoffentlich auch.

Lesehinweis: Gerald Hörhan (investmentpunk.com) hat seine Kritik an der Jugend Europas und ihren Protesten in einem Buch festgehalten: "Gegengift. Europa zockt euch ab", erschienen in der edition a in Wien.


Franziska Fink ist freie Journalistin. Hanno Terbuyken ist Redakteur bei evangelisch.de