"Erst mal singen." Hospizleiterin Gundula Seyfried führt Anne und Nikolaus Schneider und die anderen Gäste als Spontan-Chor in die beiden Etagen des Hauses "Siloah" in Herrnhut. "Dona nobis pacem", der Kanon erklingt mehrstimmig. Hier vor den Zimmern von zwölf Schwerkranken hat der lateinische Text - Gib uns Frieden - eine besondere Bedeutung: Gib uns Frieden beim Sterben.
In Herrnhut, dem Ort, an dem Graf Zinzendorf mit der Gründung der weltweiten Brüdergemeinen und als Erfinder des Losungsbuchs Kirchengeschichte geschrieben hat, befindet sich das einzige stationäre Hospiz Deutschlands im ländlichen Raum. Gründerin Gundula Seyfried war schon zu DDR-Zeiten für den Hospizgedanken aktiv. Auch ein ehrenamtlicher und ein ambulanter Hospizdienst gehören mittlerweile zur "Christliche Hospiz Ostsachsen gGmbH", bei der die Diakonie Herrnhut Mehrheitsgesellschafter ist.
Der Besuch des obersten Repräsentanten der deutschen evangelischen Kirche am südöstlichen Zipfel Deutschlands hat nichts Förmlich-Repräsentatives. Mit Seyfried und Diakon Volker Krolzik, dem Leiter der Diakonie Herrnhut, verbindet Schneider ein Kontakt aus seiner Gemeinde- und Diakoniepfarrertätigkeit. Und in Siloah wollen sie vor allem Hospizgäste besuchen.
Reden hilft, das Sterben zu bewältigen: Gespräche ohne Masken
Gundula Seyfried hat das vorbereitet, die Gäste nach dem Interesse gefragt. Margot Michael gehört zu denen, die zugesagt haben. Sie ist nicht bettlägerig, sondern sitzt noch im Sessel in ihrem Zimmer, das mit persönlichen Andenken geschmückt ist. Eine Grußkarte in Form eines Schmetterlings fällt Anne Schneider auf. "Selbst gebastelt vom Urenkelchen", erklärt die alte Dame. Anne Schneider, Theologin wie ihr Mann: "Das ist für mich ein Symbol der Auferstehung: wie die Raupe sich verpuppt und zum Schmetterling wird." –"Ja, vielleicht haben die Eltern das dem Kind so erklärt, die sind ja auch gläubig", überlegt Margot Michael. Noch ein Foto, dann wird das Gespräch seelsorglich-vertraulich.
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Etliche kurze Besuche schließen sich an, bis Schneiders zusammen mit der Hospizleiterin zurück zum Rest der Gruppe kommen und bewegt erzählen: "Die Atmosphäre war freundlich und direkt und entspannt zugleich, ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll", berichtet Nikolaus Schneider. "Es wurde sofort sehr persönlich, es waren Minuten mit unglaublicher Dichte."
Anne Schneider erinnert sich: "Ich habe zwei Jahre mit unserer Tochter auf den Krebsstationen gelebt, Freude und Trauer erlebt, das möchte ich nicht missen. Man konnte viel körperlich zeigen, sich umarmen. Die Menschen haben keine Masken." – "Was macht das mit euch, wie geht ihr mit euren Gefühlen um, gibt es Trauerbegleitung für das Personal?", will Nikolaus Schneider wissen. Ein kleines Fachgespräch über Supervision und christliche Rituale in einer entkirchlichten Umgebung schließt sich an.
Anne Schneider: "Der Tod ist nicht das absolute Ende"
Eigentlich hatten sie noch eine weitere Frau besuchen wollen, aber Gundula Seyfried wollte den Zeitplan nicht weiter ausdehnen. Vielleicht ergäbe sich gleich noch eine Gelegenheit, oder am nächsten Tag, wenn Anne Schneider die Besuche fortsetzen wollte ... Nein, Minuten später erfährt sie, dass die Frau gestorben ist. Zu spät! Wieder eine schmerzhafte Erinnerung, die Anne Schneider erzählt: "Meike hatte sich einen Abschied mit Segen gewünscht, bevor sie wegen ihrer Schmerzen - durch eine Lungenentzündung zusätzlich zur Leukämie - in ein künstliches Koma versetzt wurde. Wir hatten telefoniert und ihr versprochen, dass wir kommen, aber wir mussten von Neukirchen nach Essen und sind 5 Minuten zu spät gekommen." - "Stau auf der A 40", wirft ihr Mann ein.
Sechs Jahre ist es her. Anne Schneider: "Da bleibt ein Stück Bitterkeit. Der Trost: Das ist nicht das absolute Ende." Nikolaus Schneider: "Wir erfahren unsere Grenzen, wir müssen nicht perfekt sein". Bewusst reden die Eltern viel von Meike, leben mit der Lücke, die sie hinterlassen hat. Und raten anderen, über ihr Erleben zu reden. Das sei entscheidend für die Bewältigung. Ihnen hilft auch der Glaube an ein Leben in der Gegenwart Gottes, was durch den Tod nicht endet.
Wenn die gelbe Kerze im Sandsteinbecken brennt
Aber was tut man praktisch, wenn der Tod eintritt? Vorhin hatte Gundula Seyfried noch erklärt, dass die gelbe Schwimmkerze im wassergefüllten Sandsteinbecken am Eingang bei einem Todesfall angezündet wird. "Wie ein Taufbecken", war Schneiders eingefallen, und sie hatten einen spontanen theologischen Dialog über den Zusammenhang vom Wasser der Taufe, dem Tod durch das Taufwasser und die Wiedergeburt in Christus geführt.
"Wir singen noch einmal!", wird beschlossen. Der alte Osterchoral "Christ ist erstanden" ertönt neben dem Wasserbecken mit der Kerze, die jetzt brennt. Diesen Moment wird Gundula Seyfried nicht vergessen. Zwei Monate später schwärmt sie von der "absolut nachhaltigen Wirkung" des Besuchs in Herrnhut, auch durch Schneiders Lesung aus ihrem Buch über Meikes Tod abends in der Kirche. Die Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit sei größer geworden. Margot Michael habe noch lange das Erinnerungsfoto in ihrem Zimmer gehabt und von den Schneiders gesprochen. Jetzt gehe es ihr sehr schlecht. "Sie macht sich auf den Weg", sagt die Hospizleiterin. "Alle, die die Schneiders besucht haben, sind inzwischen gestorben oder es geht ihnen sehr schlecht. So ist das im Hospiz", setzt sie fast entschuldigend hinzu.
Selbst den Tod Angehöriger zu erleben, ist eine existenzielle Erfahrung, weit über das hinaus, was Nikolaus Schneider als Pfarrer bei Beerdigungen gelernt hatte. Für Nikolaus Schneider hat sich sein Gottesbild verändert: "So wie es bei den Erklärungen Martin Luthers zu Beginn der Zehn Gebote heißt: Wir sollen Gott fürchten und lieben. Ich kannte nur das Lieben, aber die Dimension des Fürchtens habe ich gelernt - und die ist nicht ohne. Und diese Dimension der Rätselhaftigkeit und Ferne." Das sagte er kürzlich in einem Interview zur Vorbereitung des 4. Deutschen Kinderhospizforums, das er am vergangenen Wochenende gemeinsam mit seiner Frau mit einem Vortrag eröffnet hat. Denn solche Termine haben seitdem bei ihm eine hohe Priorität: "Es ist für mich ein Lebensthema geworden."
Anne und Nikolaus Schneider: "Wenn das Leid, das wir tragen, den Weg uns weist. Leben und Glauben mit dem Tod eines geliebten Menschen", Neukirchener Verlagsgesellschaft, 79 Seiten, 9,90 Euro
Katharina Weyandt arbeitet als freie Journalistin für evangelisch.de und betreut den Kreis "Wenn die Eltern älter werden" in unserer Community.