Libyen nach Gaddafis Tod vor dem Neuanfang
Die letzten Schüsse in Libyen klingen wie ein Startsignal für den Aufbruch: Nur wenige Stunden nach dem Tod von Ex-Diktator Gaddafi laufen bereits die Vorbereitungen für den demokratischen Wandel an. Libyen soll in einem Monat eine neue Übergangsregierung haben. Die NATO wird wohl heute den Abschluss des Einsatzes verkünden.

Nach dem blutigen Ende der Ära Gaddafi wendet sich Libyen einer demokratischen Zukunft zu. Nur wenige Stunden nach dem Tod des früheren Machthabers Muammar al-Gaddafi hat der Übergangsrat bereits mit der Bildung eines neuen Staatswesens begonnen. Schon in einem Monat soll die neue Übergangsregierung in Tripolis stehen. Die einstigen Rebellen feierten unterdessen landesweit ihren Erfolg, mit dem das monatelange Blutvergießen in Libyen zu Ende gehen dürfte. Nach zunächst unbestätigten Berichten wollte der Übergangsrat am Samstag Libyen für befreit erklären.

Übergangsregierung: Gaddafi kam lebendig in Misrata an

Wer genau den Ex-Diktator am Donnerstag in seiner Heimatstadt Sirte tötete, konnte vorerst nicht geklärt werden, da sich die Berichte widersprachen. Zuletzt erklärte Ministerpräsident Mahmud Dschibril, Gaddafi sei gefangen genommen und kurz darauf lebensgefährlich verletzt worden, als die Kämpfer, die ihn auf einem Pritschenwagen von Sirte nach Misrata bringen wollten, auf dem Weg unter Beschuss geraten seien. Er sei nicht von den Kämpfern zu Tode geprügelt worden, sondern erst nach seiner Ankunft im Krankenhaus von Misrata gestorben, weil er viel Blut verloren habe.

Wenige Stunden nach seinem Tod haben die libyschen Revolutionstruppen den getöteten Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi in eine Moschee in der Stadt Misrata gebracht. Das meldete der arabische Nachrichtensender Al-Dschasira am Donnerstagabend. Dies deutet darauf hin, dass der frühere Diktator nach islamischem Ritus beerdigt werden soll.

Nach einem Bericht der "New York Times" wurde Gaddafis Leichnam in Misrata von Hunderten Menschen beäugt. Feiernde Soldaten der Übergangsregierung gaben unterdessen die "ultimativen Trophäen dieser Revolution" von Hand zu Hand weiter - Gaddafis goldene Pistole, sein Satellitentelefon, seinen braunen Schal und einen schwarzen Stiefel.

Außer Gaddafi sollen auch dessen Geheimdienstchef Abdullah al-Senussi und Verteidigungsminister Abu Bakr Junis getötet worden sein. Am Abend wurde zudem der Tod der Gaddafi-Söhne Saif al-Islam und Mutassim vom staatlichen Fernsehen bestätigt. Beide sollen wie ihr Vater in Sirte getötet worden sein.

Libyen soll in einem Monat eine neue Übergangsregierung haben

Die Libyer nehmen ihr Schicksal jetzt selbst in die Hand. Dschibril sagte am Donnerstagabend nach Angaben des Senders Al-Dschasira, die neuen Machthaber wollten an diesem Samstag offiziell den Beginn der Übergangsphase auf dem Weg zu einem demokratischen Staat verkünden. Der Vorsitzende des Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil, wolle dies in Sirte, der Heimatstadt von Ex-Diktator Gaddafi tun.

Dann werde binnen 30 Tagen eine neue Übergangsregierung gebildet. Acht Monate später solle dann ein Nationalkongress einberufen werden, um die Weichen für einen kompletten Neuanfang zu stellen.

Dschibril erklärte, der Übergangsrat habe am Donnerstag, nachdem Gaddafi getötet worden sei, Kontakt mit dem Internationalen Strafgerichtshof aufgenommen. Das Gericht habe die Libyer gebeten, Gaddafi vorerst nicht zu begraben, damit der Leichnam untersucht werden könne. Der Übergangsrat habe jedoch anders entschieden. Allerdings hätten Ärzte Haar- und Gewebeproben von der Leiche genommen, um keine Zweifel an der Identität des Getöteten aufkommen zu lassen.

Gaddafi werde in Kürze an einem unbekannten Ort nach islamischem Ritus begraben, sagte Dschibril. Was mit seinem Körper geschehe, sei "ziemlich egal, Hauptsache, er verschwindet". Offenkundig will der Übergangsrat damit verhindern, dass das Grab zu einem Wallfahrtsort für Gaddafi-Anhänger wird.

Rasmussen: Nato-Einsatz in Libyen vor dem Ende

Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen hat nach dem Tod von Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi ein rasches Ende des Nato-Einsatzes in Libyen angekündigt. Die Nato werde den seit Ende März laufenden Einsatz in Abstimmung mit den Vereinten Nationen und dem Nationalen Übergangsrat Libyens beenden, heißt es in einer Erklärung Rasmussens vom Donnerstagabend in Brüssel. "Mit dem Fall von Bani Walid und Sirte ist dieser Moment jetzt sehr viel nähergerückt."

"Die Nato und unsere Partner haben das historische Mandat des UN-Sicherheitsrates zum Schutz der libyschen Bevölkerung erfolgreich umgesetzt", erklärte Rasmussen. Nach Angaben von Diplomaten wird der Nato-Rat bei einer Sondersitzung an diesem Freitag voraussichtlich das Ende des Einsatzes beschließen.

Zum Tod Gaddafis heißt es in der Erklärung des Generalsekretärs: "Libyen kann einen Strich unter ein dunkles Kapitel seiner Geschichte ziehen und eine neue Seite aufschlagen." Die Libyer müssten nun selbst über ihre Zukunft entscheiden. Rasmussen rief alle Libyer auf, "ihre Streitigkeiten beizulegen und gemeinsam eine besseer Zukunft zu bauen". Er appellierte an den Übergangsrat, Vergeltungsaktionen gegen Zivilisten zu verhindern und "Zurückhaltung im Umgang mit den besiegten Gaddafi-Truppen zu üben".

US-Präsident Barack Obama sprach von einem "historischen Tag in der Geschichte Libyens". "Sie haben ihre Revolution gewonnen", sagte er in Washington an die Adresse der Rebellen gerichtet. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach von einem Schlusspunkt unter dem Regime Gaddafi. "Damit geht ein blutiger Krieg zu Ende, den Gaddafi gegen sein eigenes Volk geführt hat", sagte Merkel in Berlin.

Amnesty fordert Untersuchung der Todes von Gaddafis

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) hat eine Untersuchung der Todesumstände von Muammar al-Gaddafi gefordert. Es sei wichtig, dass dem libyschen Volk durch eine unabhängige Untersuchung alle Fakten offenbart würden, teilte Amnesty am Donnerstag in London mit. Der Tod Gaddafis ist aus Sicht der Menschenrechtsorganisation "noch nicht das Ende der Geschichte". Anhänger des Regimes müssten nun für ihre Straftaten zur Verantwortung gezogen werden.

"Das Erbe der Unterdrückung und des Missbrauchs während Muammar al-Gaddafis Herrschaft wird nicht zuende sein, bis die Vergangenheit vollständig aufgearbeitet ist und Menschenrechte den neuen Institutionen Libyens fest verankert sind", sagte Hassiba Hadj Sahraoui, der bei AI für Nordafrika und den Nahen Osten zuständig ist. "Der Tod von Gaddafi darf seine Opfer in Libyen nicht davon abhalten, Gerechtigkeit zu sehen." Die neue Regierung müsse mit der "Kultur des Missbrauchs" unter Gaddafi vollständig brechen und Menschenrechtsreformen durchsetzen, die das Land bitter nötig habe, hieß es.

Vatikan: Hoffnung auf Frieden ohne Rache

Der Vatikan hat den Tod des früheren libyschen Machthabers Muammar al-Gaddafi als Abschluss eines langen und tragischen Kapitels bezeichnet. Man könne nur hoffen, dass "die neuen Regierenden dem libyschen Volk jede Gewalt aus Rache ersparen und so schnell wie möglich den Wiederaufbau und die Befriedung des Landes beginnen", hieß es in einer Pressemitteilung des Heiligen Stuhls am Donnerstagabend. Die internationale Gemeinschaft möge den Wiederaufbau großzügig unterstützen.

Der Vatikan betonte seine Praxis, die Staaten und nicht ihre Regierungen anzuerkennen. Daher betrachte man auch den Übergangsrat der Rebellen als rechtmäßige Regierung des Landes, ohne ihn jemals offiziell anerkannt zu haben.

Syriens Opposition: Assad ist der Nächste

Die Opposition in Syrien hat die Tötung des ehemaligen libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi begrüßt und hofft nun auf ein Ende des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad. "Gaddafi ist gegangen, und als nächster bist du dran, Baschar!", heißt es auf der Facebook-Seite "Syrian Revolution 2011". Der Internet-Auftritt der Opposition zeigt auch die rot durchgestrichenen Porträts der gestürzten Machthaber Husni Mubarak (Ägypten), Ben Ali (Tunesien) und Gaddafi - neben den nicht durchgestrichenen Konterfeis von Assad und Ali Abdullah Salih (Jemen). "Dies ist das Ende der Tyrannen", heiß es auf der Seite.

In Syrien verlangen die Bürger seit März bei großen Demonstrationen politische Reformen und den Rücktritt des Assad-Regimes. Bei der Unterdrückung der Proteste durch die Sicherheitskräfte sind nach UN-Angaben 3.000 Menschen getötet worden.

dpa