Die kommunistische Planwirtschaft, so dachte ich, ist daran gescheitert, dass Betriebe nicht pleite gehen konnten. Die Betriebe gingen kein Risiko ein, wenn sie falsche Entscheidungen trafen und schlecht wirtschafteten. So förderte die kommunistische Planwirtschaft verantwortungsloses Wirtschaften. Denn letztlich hat der Staat, und damit die Allgemeinheit, die Schulden bezahlt, die Betriebe angehäuft hatten. Das ist in der Marktwirtschaft ganz anders - dachte ich. Betriebe können pleitegehen. Und das heißt, Unternehmer und Manager, die schlecht wirtschaften, werden vom Markt bestraft.
Doch diese Grundregel der Marktwirtschaft ist bei den Großbanken außer Kraft gesetzt worden. Der Staat bewahrt sie vor der Pleite - mit dem Geld der Steuerzahler. Und das nehmen ausgerechnet diejenigen in Anspruch, die in den vergangenen Jahren den schlanken Staat propagiert und Eigenverantwortung gepredigt haben. Diese Doppelmoral, diese Verlogenheit erzürnt mich noch mehr, als Spekulationsgeschäfte und überhöhte Boni für Manager.
Zornig sind auch diejenigen, die in der New Yorker Wallstreet, vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und an vielen anderen Orten demonstrieren. Und ich bin froh, dass sie es tun. Endlich. Denn lange Zeit hat es so ausgesehen, als hätten nur ehemalige Politiker wie Norbert Blüm, Erhard Eppler und Heiner Geißler die Courage, dem Neoliberalismus zu widerstehen. Und die viel Hohn und Spott haben sie dafür geerntet. "Sozialromantiker" wurde Norbert Blüm vor neun Jahren beim Leipziger CDU-Parteitag gescholten. Und er wurde von Parteifreunden ausgepfiffen.
Auch Gott regt sich auf und wird zornig
Auch die Demonstranten in New York und Frankfurt am Main werden verspottet und beschimpft. Sicher, sie haben keine oder keine genauen Vorstellungen, was sich ändern muss. Und ich habe sie auch nicht. Zorn und Empörung sind nur erste Reaktionen. Aber sie dürfen, ja sie müssen gezeigt werden. Das ist der erste Schritt, damit sich etwas ändert.
Dass die Reichen ihr Schäfchen ins Trockene bringen und die Armen bluten lassen, hat auch die Propheten des Alten Testaments erzürnt. So sagt Gott nach den Worten des Propheten Amos zu den Reichen und Mächtigen: "Ich kenne eure Freveltaten, die so viel sind, und eure Sünden die so groß sind, wie ihr die Gerechten bedrängt und Bestechungsgeld nehmt und die Armen im Tor unterdrückt" (Amos 5, 12). Zorn und Empörung über Ungerechtigkeit und Unrecht sind Christen angemessen. Denn Und Jesus steht in der Tradition der Propheten, wenn er seinen Jüngern einschärft: "Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon" (Matthäus 6, 24).
Allerdings ist Zorn, auch der heilige Zorn, kein guter Ratgeber. Und die Propheten verharren nicht in ihm. So empfiehlt der Prophet Jeremia: "Suchet der Stadt Bestes, und betet für sie zum Herrn" (Jeremia 29, 7). Und auch wir sollten für die Stadt beten, für die Politiker, für die Banker und für die, die unter ihnen leiden. Aber die Hände falten, bedeutet nicht, die Hände in den Schoß legen. Wer betet, tritt nur einen Schritt zurück. Wer betet, wendet den Blick nach innen und damit nach oben. Wer betet, bringt vor Gott, was ihn bewegt, was ihn erzürnt und was er hofft. Wer betet, hört hin. So ordnen und wandeln sich die Gedanken. Und daraus folgt überlegtes und mutiges Handeln. Der Zorn entartet nicht in Gewalt. Er setzt vielmehr Energien frei, um für eine Gesellschaft zu kämpfen, in der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit herrschen.
Jürgen Wandel (geboren 1952) ist Pfarrer der württembergischen Landeskirche und Redakteur der evangelischen Monatszeitschrift "zeitzeichen" in Berlin.