"Ich habe damals gesagt, dass zwei Herzen in meiner Brust schlagen", erklärt Hans-Jürgen Schweizer, Vorsitzender des Presbyteriums der evangelischen Kirchengemeinde Waldbröl im Bergischen Land (Nordrhein-Westfalen). "Einerseits fühle ich mich als gesetzestreuer Bürger unseres Landes, aber in diesem speziellen Fall musste ich mich im Sinne meiner Glaubenüberzeugung hinter die Frau und Kinder stellen und meine Rechtsstaatlichkeit ein Stück hinten anstellen. Das war mein Standpunkt und ist mein Standpunkt." Es klingt fast wie Luthers "Hier stehe ich und kann nicht anders."
Im August 2010 hatte sich das Presbyterium der Kirchengemeinde innerhalb von zwei Tagen entschlossen, einer armenischen Witwe aus Russland und ihren zwei jugendlichen Kindern Kirchenasyl zu gewähren. Die drei sollten abgeschoben werden und konnten sich im letzten Moment ins Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde retten, wo sie gut zwei Monate lang blieben. In dieser Zeit wurden zwei Gutachten erstellt, die beide zu dem Ergebnis kamen, dass die Mutter traumatisiert sei und daher nicht abgeschoben werden dürfe. Das Verfahren gegen die Familie wurde eingestellt, die drei leben nun ganz legal in Waldbröl. Das Kirchenasyl hatte also größtmöglichen Erfolg.
Ein "beispielloser Vorgang" in der Geschichte
Umso weniger versteht man beim Ökumenischen Netzwerk Asyl in der Kirche in NRW, dass im August 2011 Anklage erhoben wurde. "Das Brisante daran ist, dass entschieden wurde, dass die Familie nicht abgeschoben werden kann. Und trotzdem verfasst die Staatsanwaltschaft eine Anklageschrift", empört sich der Sprecher des Netzwerkes, Andreas Flörchinger. Das sei ein "beispielloser Vorgang" in der Geschichte der Kirchenasylbewegung. "Wir waren erstmal erschrocken und wütend", so Flörchinger. Rechtlich ist das Instrument Kirchenasyl nicht geregelt. In der Regel respektieren es die Behörden und lassen Flüchtlinge in Kirchen und Gemeindehäusern in Ruhe.
Zu Beginn des Kirchenasyls war alles noch seinen üblichen Weg gegangen. "Sofort nachdem die Familie in Obhut genommen worden war, wurde die Ausländerbehörde darüber informiert", erzählt Flörchinger. "Das heißt, der Aufenthalt war bekannt. Formaljuristisch gesehen hätte die Abschiebung aus der Kirchengemeinde heraus erfolgen können." André Steiniger, Leiter der Pressestelle des Oberbergischen Kreises als zuständiger Ausländerbehörde, bestätigt: "Wir wären auch irgendwann da hingegangen und hätten die Familie rausgeholt." Irgendwann - doch die beiden Gutachten, die zum Bleiberecht führten, kamen dazwischen.
Bevor die Gutachten erstellt wurden, als die Lage noch völlig offen war, hatte die Ausländerbehörde Anzeige erstattet. "Das ist absolut übliche Verwaltungspraxis, sobald Beihilfe zum illegalen Aufenthalt vorliegt", so bewertet Steiniger das Vorgehen. Die Anzeige war für die Behörde ein notwendiger, rein formaler Akt. "Wenn wir Anzeige erstatten, obliegt es der Staatsanwaltschaft zu entscheiden, ob sie ein Verfahren eröffnet oder nicht. Aktuell haben wir mit dem Fall nichts mehr zu tun."
"Der Jurist kann nicht über seinen Schatten springen"
Auch das Amtsgericht Waldbröl, über dessen Schreibtische der Fall zunächst lief, schiebt den Schwarzen Peter weiter: "Wir hatten hier eine Anklage auf dem Tisch. Warum die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, wissen wir nicht", erklärt der Direktor des Amtsgerichts, Fabian Krapoth. Er spricht von einem Spannungsverhältnis zwischen Gesetz und Moral: "Der Jurist kann nicht über seinen Schatten springen. Das muss jetzt juristisch in den vorgegebenen Formen beendet werden." Möglicherweise hänge der weitere Fortgang auch davon ab, "wie sich die Beschuldigten einlassen", so Krapoth.
Genau da liegt offenbar der Hase im Pfeffer. Der Bonner Oberstaatsanwalt Fred Apostel macht deutlich, dass es sich mehr oder weniger um ein Kommunikationsproblem handelt, aus dem es aus seiner Sicht aber für die Presbyteriumsmitglieder einen Ausweg gibt: "Zwei haben gesagt 'tut mir Leid', gegen die ist das Verfahren eingestellt worden. Der Rest hat gesagt: Wir würden das immer wieder machen." Wenn jemand so pauschal sage, dass er sich nicht ans Gesetz hält, könne die Staatsanwaltschaft das nicht akzeptieren. "Man muss zumindest nachvollziehbar sein Bedauern ausdrücken", fordert Fred Apostel, "Dann gibt's den großen Zeigefinger, und das Verfahren wird sicher eingestellt. Eine solche Sache sollte eigentlich im unmittelbaren Dialog gelöst werden."
Doch auch die Staatsanwaltschaft muss den formaljuristisch vorgegebenen Weg gehen: Die Anzeige der Ausländerbehörde liege nun einmal vor. "Dann stehen wir da. Dann sind wir wieder die Buhmänner der Nation", klagt Apostel. "Wir sind verpflichtet, das zu verfolgen und die Einhaltung des Gesetzes zu beachten." Glücklich scheint er darüber nicht zu sein. Mehr oder weniger offen geben beide Juristen zu verstehen, dass sie den Kirchenleuten eigentlich nicht an den Kragen wollen.
Nicht gesetzeskonform, aber zufrieden mit dem Ergebnis
"Wenn eine Möglichkeit geschaffen wird, die uns ein Verfahren erspart, sind wir daran interessiert", erklärt der Presbyteriumsvorsitzende Hans-Jürgen Schweizer. Der Oberstaatsanwalt hat eine solche Möglichkeit angedeutet: Gespräche, eine Entschuldigung, ein Bekenntnis zum Gesetz. Doch die zwei Herzen in Schweizers Brust schlagen beide weiter: "Wir können keine Dinge von uns geben, hinter denen wir letztlich nicht stehen, da gehe ich persönlich auch nicht hinter zurück. Unsere Intervention war nicht gesetzeskonform, aber hat zu einem Ergebnis geführt, womit wir sehr zufrieden waren. Ich fühle mich bestätigt."
Unterstützung erfahren Schweizer und seine Presbyteriumskollegen vom Superintendenten des Evangelischen Kirchenkreises an der Agger, Jürgen Knabe: "Wenn es zur Hauptverhandlung kommt, werden wir sehr dezidiert unsere evangelische theologische Position zur Sprache bringen." Doch Knabe hegt die leise Hoffnung, dass es den Beschuldigten erspart bleibt, auf der Anklagebank zu sitzen. Oberstaatsanwalt Apostel habe ja angedeutet, "die Kuh anderweitig vom Eis" zu führen. "Vielleicht kann man hier zu einer Lösung kommen, die eine weitere Eskalation verhindert, das wäre glaube ich für alle Beteiligten der sinnvollste Weg", so der Superintendent.
Die Anwälte der sieben Presbyteriumsmitglieder haben Widerspruch gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens eingelegt. Dadurch befindet sich die Kirchengemeinde in einem "schwebenden Zustand", so Schweizer. Man wartet auf die Entscheidung, ob eine Verhandlung anberaumt wird oder nicht. Das Ökumenische Netzwerk Asyl in der Kirche bleibt in der Zwischenzeit nicht untätig: Weil Anwaltskosten und möglicherweise Geldstrafen auf die Waldbröler Presbyter zukommen, hat Andreas Flörchinger die Mitgliedsgemeinden des Netzwerkes angeschrieben und um Kollekten gebeten. "Und wir unterstützen auch moralisch - dadurch dass wir da sind."
Die Aussagen von Superintendent Jürgen Knabe wurden am 21. Oktober ergänzt.
Anne Kampf ist Redakteurin bei evangelisch.de und zuständig für die Ressorts Politik und Gesellschaft.