Welche Rolle spielen die "Christlichen Gewerkschaften"?
Die Tradition christlicher Gewerkschaften reicht mehr als 100 Jahre zurück. Doch was anfangs als Alternative zu den meist sozialistisch geprägten Gewerkschaften gedacht war, präsentiert sich heute als ein Instrument zum Lohndumping - mitunter sogar bezahlt von den Arbeitgebern.
19.10.2011
Von Thomas Östreicher

Das Angebot war ungewöhnlich, aber eindeutig. Der künftige Leiter eines städtischen Pflegeheims in der Lausitz benötigte Billiglöhne und legte einen passenden Tarifvertrag vor. Inhalt: Die Mitarbeiter sollen nachts und sonntags ohne Zuschläge arbeiten. Im trauten Gespräch mit einem hohen Funktionär der Christlichen Gewerkschaft Deutscher Handels- und Industrieangestellten-Verband (DHV) wurde all dies und obendrein der Wegfall von Urlaubs- und Weihnachtsgeld für die 80 Beschäftigten vereinbart - gegen eine Spende an den DHV von 5.000 Euro.

Dumm nur, dass der vermeintliche Pflegeheim-Manager ein Reporter des Fernsehmagazins "Report Mainz" war. Er recherchierte verdeckt und brachte 2008 diese "Tarifverhandlungen der ganz anderen Sorte" ans Licht, wie der Moderator der Sendung süffisant anmerkte.

Der CGB-Vorsitzende Matthäus Strebl. Foto: CDU/CSU-Bundestagsfraktion

Eine Gewerkschaft als Erfüllungsgehilfe des Arbeitgebers? Auf den Internetseiten der Verbände liest sich das ganz anders. "Die Christlichen Gewerkschaften in Deutschland arbeiten seit über 100 Jahren für das Gemeinwohl auf der Basis der christlichen Soziallehre", heißt es beim Christlichen Gewerkschaftsbund (CGB), der auf angebliche "280.000 Mitglieder" in seinen 16 Mitgliedsverbänden verweist. Dass diese vielfach als "Scheingewerkschaften" geschmäht werden, wird dort verständlicherweise nicht erwähnt. CGB-Vorsitzender ist der CSU-Bundestagsabgeordnete Matthäus Strebl (Bild links).

Als Alternative gegründet...

Anfangs stark katholisch geprägt, wirkten die aus frühen Arbeiter- und Gewerkvereinen hervorgegangenen Christlichen Gewerkschaften in der Weimarer Republik stark bei der Entwicklung der deutschen Sozialgesetzgebung mit. 1933 wurden sie jedoch ebenso wie die Freien Gewerkschaften von den Nazis aufgelöst. Nach dem Zweiten Weltkrieg erteilten die Siegermächte Konzessionen lediglich an die Mitgliedsverbände des heutigen Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) - die Alliierten gaben der Idee der Einheitsgewerkschaft den Vorzug vor den ehemaligen Richtungsgewerkschaften, um eine Zersplitterung der Arbeitnehmervertretung zu verhindern.

Erst Mitte der Fünfzigerjahre erfolgte eine Neugründung auch der Christlichen Verbände, die sich bis heute als Beispiel für "Gewerkschaftspluralismus" verstehen: "Nur durch Wettbewerb werden Gewerkschaften zu Höchstleistungen in der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen angespornt", heißt es in den CGB-Leitsätzen vollmundig. Die Praxis freilich sieht anders aus, denn der "Wettbewerb" scheint aus Sicht der "Christlichen" oft darin zu bestehen, möglichst niedrige Tarifabschlüsse zu erwirken. Prof. Gerhard Bosch, Arbeits- und Wirtschaftssoziologe an der Universität Duisburg-Essen, nennt die CGB-Mitgliedsverbände "Splitterorganisationen", die "vor allem Billigtarife für die Unternehmer abschließen".

...heute widerstandslose Tarifpartner

Die von "Report Mainz" aufgedeckte Lohndumping-Absprache ist nämlich offensichtlich kein Einzelfall. In den vergangenen Jahren haben sich Christliche Gewerkschaften immer wieder für Niedriglohnabschlüsse hergegeben. So drückte etwa die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit (CGZP) den Lohn in Filialen der Drogeriekette Schlecker um drastische 45 Prozent von zuvor 12 auf 6,61 Euro. Beim Krankenhauskonzern Asklepios half die Christliche "Gesundheitsgewerkschaft" Medsonet dabei, Arbeit deutlich billiger zu machen und auch die arbeitnehmerunfreundlichen DHV-Tarifvereinbarungen beim Blutspendedienst West des Deutschen Roten Kreuzes wurden stark kritisiert.

[listbox:title=Mehr im Netz[Beitrag des ZDF-Magazins "frontal21" vom 8.3.2011 über von Billiglohn-Arbeitgebern erschlichene Zwangsmitgliedschaften in Christlichen Gewerkschaften]]

Die Methode ist dabei oft die gleiche: In Branchen mit traditionell wenigen Gewerkschaftsmitgliedern werden Scheinorganisationen, gerade weil sie wenige Mitglieder vertreten, vom Management bereitwillig als widerstandslose Tarifpartner akzeptiert. Mit ihnen werden dann Billig-Tarifverträge geschlossen, die fortan für alle Beschäftigten gelten. Etliche andere Tarifverträge wiederum, die die "Christlichen" ihren Mitgliedern gegenüber gern als Beleg für ihre Gewerkschaftsarbeit anführen, haben sie lediglich mitunterzeichnet statt sie zu erkämpfen.

"Das tut richtig weh"

Die Christlichen Gewerkschaften behaupten zwar stets, in wie auch immer geartete "Verhandlungen" mit der Arbeitgeberseite zu treten - Beispiele für aktive Auseinandersetzungen und gelungene Mitglieder-Mobilisierungen womöglich bis hin zum Arbeitskampf gibt es jedoch keine. (Anm. d. Red.: Mehrere Interviewanfragen von evangelisch.de zur Rolle der Christlichen Gewerkschaften beantwortete der Christliche Gewerkschaftsbund CGB nicht.) Die Privatisierungen im Gesundheitsbereich und die Übertragung ganzer Aufgabenkomplexe in neu gegründete Kleinunternehmen, die weder einem Arbeitgeberverband angehören noch an Tarifverträge gebunden sind, bereitete dafür den Boden.

Das Agieren der CGB-Verbände "tut uns im Bereich Gesundheitswesen richtig weh", sagt Jörg Wiedemuth, Leiter der tarifpolitischen Grundsatzkommission der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, der mehr als zwei Millionen Beschäftigte angehören. Im Gespräch mit evangelisch.de führt er das Erstarken der Christlichen Gewerkschaften auch auf den Wegfall der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG) zurück, die einst für viele, die sich mit den Positionen des Deutschen Gewerkschaftsbunds nicht anfreunden konnten, eine Alternative darstellte. Seit die DAG im Jahr 2001 in ver.di aufging, sei eine Art Vakuum entstanden, das die "Christlichen" zum Teil füllten, obwohl die Organisationen nicht vergleichbar seien.

Konkurrenz ist gut für das Geschäft - es kommt nur darauf an, welche

Dass gewerkschaftliche Konkurrenz durchaus das Geschäft beleben kann, bestreitet der ver.di-Mann Wiedemuth dabei keineswegs. Im Gegenteil, versichert er: "Wir nehmen die Branchenverbände, die sich als Alternative oder Konkurrenz gründen, sehr viel ernster als die Organisationen, deren Funktion darin besteht, Tarifdumping nach unten zu betreiben." Als Beispiele nennt er etwa die Ärzteverband Marburger Bund und die Pilotenvereinigung Cockpit. "Die kriegen ja auch was auf die Beine."

Das gelte aber nicht für die Christlichen Gewerkschaften. "Unsere Einschätzung ist: Das sind keine Gewerkschaften, und deswegen setzen wir uns mit ihnen auch in erster Linie juristisch auseinander", sagt der ver.di-Funktionär. Nicht ohne Erfolg: Auf Antrag von ver.di sprachen mehrere Gerichte der Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften für die Zeitarbeit (CGZP) und Medsonet die Tariffähigkeit mangels Mitgliedern ab; in letzterem Fall ist das Urteil allerdings noch nicht rechtskräftig.

Eine Aufgabe für die Politik

Folge der Gerichtsurteile: Die mit den Christlichen Gewerkschaften vereinbarten Niedriglöhne müssen nachträglich angehoben und nachgezahlt werden, dazu kommen entsprechende Nachforderungen der Sozialversicherung. Manch einem Arbeitgeber, der sich über die vermeintlichen Schnäppchentarife freute, droht deswegen nun gar die Insolvenz.

Dem renommierten Arbeitsrechtler Prof. Peter Schüren von der Universität Münster reichen solche gerichtlichen Teilerfolge nicht aus, wie er dem Magazin "kontrovers" des Bayerischen Rundfunks sagte. Er findet es "an der Zeit, dass der Staat - also hier das Bundesarbeitsministerium und die Arbeitsministerien der Länder - ihre Aufsichtspflicht ernst nehmen und solchen Pseudogewerkschaften das Handwerk legen".


Thomas Östreicher ist freier Mitarbeiter bei evangelisch.de.