Der Tell und die Geheimnisse der biblischen Zeit
Der Siedlungshügel Tell Zira’a in Nordjordanien lässt tief bis in die alttestamentliche Zeit blicken. Über tausende von Jahren bauten hier Völker auf den Ruinen ihrer Vorgänger. Der Ort gibt auch Aufschluss über die Landnahme der Israeliten in Kanaan. Eine Spurensuche.
17.10.2011
Von Thomas Becker

Es war mühsam in der Hitze von Nordjordanien. Woche für Woche durchstreifte Dieter Vieweger die hügelige, fruchtbare Landschaft, ganz in der Nähe des Sees Genezareth. Er, der Archäologe und Theologe mit Spezialgebiet Altes Testament, sammelte Scherben, nahm Bodenproben und folgte Hinweisen, die er in Berichten früherer Expeditionen und auf alten Karten fand. Nein, es war nicht der heilige Gral, nach dem er suchte. Und doch suchte der Wissenschaftler nach Hinweisen auf die biblische Zeit.

Und dann fand er ihn: den Tell Zira'a. Auf den ersten Blick war es nur ein Hügel von vielen, unscheinbar, unbebaut und unbesiedelt. Ein paar Beduinen schlugen am Fuße des Hügels gelegentlich ihre Zelte auf. Und doch: Im Innern barg dieser Hügel ein überraschendes Geheimnis. Geländeuntersuchungen ergaben, dass der Tell Zira'a mehr als 5.000 Jahre lang besiedelt war. Generationen von Völkern hatten auf den Ruinen der vorhergehenden gebaut. Auf diese Weise ist der Hügel über die Jahrtausende um 12 bis 16 Meter gewachsen. Mit einer Fläche von 5,8 Hektar zählt er heute zu den größten Siedlungshügeln im Nahen Osten.

"Das ist ein Schatz und ein echter Glücksfall für die Archäologie", sagt Vieweger (Foto), Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes (DEI). Noch heute schwingt Begeisterung in seiner Stimme, wenn er von seinem Büro in Jerusalem über den Tell Zira'a spricht. "Der Tell", sagt er meist nur, als wisse jeder, was damit gemeint ist: ein Siedlungshügel, den Archäologen untersuchen. Es mag verwundern, dass gerade dieser Hügel den habilitierten Alttestamentler so begeistert, da der Ort in der Bibel kein einziges Mal explizit erwähnt wird.

Die biblische Zeit verstehen

Er rückt ein wenig zurück auf seinem Stuhl. Früher, erzählt Dieter Vieweger, seien Theologen mit der Bibel in der Hand losgezogen und hätten versucht, die geschichtliche Wahrheit der Heiligen Schrift durch archäologische Funde zu beweisen. "Jeder Spatenstich ein Argument gegen den Unglauben, so hieß das." Heute dagegen bemühten sich biblische Archäologen darum, "die Zeit zu verstehen, in denen die Geschichten der Bibel spielen". Dazu biete der Tell Zira'a hervorragende Voraussetzungen.

Er liegt geografisch im Norden des von Gott verheißenen Landes, in das die Israeliten – so berichtet es das Buch Deuteronomium – von Ägypten aus triumphierend einmarschiert sein sollen. Dieses Ereignis soll sich um 1.200 vor Christus zugetragen haben, vermuten Archäologen. Aber verlief die Landnahme der Israeliten tatsächlich so, wie sie in der Bibel geschildert wird? Was geschah mit der einheimischen Bevölkerung? Woran glaubten sie?

Ein großer Umbruch

Antworten auf diese Fragen schlummern auch im Tell Zira'a. Seit 2003 graben Archäologen dort nun schon unter der Aufsicht von Dieter Vieweger und Jutta Häser (Foto). Die Leiterin der DEI-Außenstelle im jordanischen Amman ist heute angereist, um die in einigen Wochen beginnenden jährlichen Grabungsarbeiten auf dem Tell Zira'a vorzubereiten.

Es ist mal wieder ein windiger Tag. Die Archäologin marschiert vom Fuße des Hügels vorbei an Kalksteinfelsen, Olivenbäumen und Kakteen. Kein Mensch ist weit und breit zu sehen. "In der Zeit von 1.500 bis 1.200 vor Christus stand hier vermutlich eine der größten Städte in der Region", sagt die promovierte Archäologin.

Tatsächlich sei ab 1.200 aber ein großer Umbruch auf dem Tell Zira'a zu beobachten, ähnlich wie in der ganzen Region Palästina. "Man sieht den Wandel in der Zerstörung der Stadt und dem ganz andersartigen Wiederaufbau", sagt Jutta Häser. Aber wodurch ist der Niedergang der Stadtstaatenkultur in Palästina zu erklären? "Das ist eine bis heute ideologisch sehr aufgeladene Frage", sagt Jutta Häser.

Manche Wissenschaftler führten Belege für die Invasion der Israeliten in die Region an – auch, um heutige Besitzansprüche geltend zu machen. Eine zweite Gruppe von Wissenschaftlern verweise auf Seevölker aus dem Mittelmeerraum, die um 1.200 vor Christus in die Region eindrangen und Städte plünderten. Möglich sei, dass einheimische Bewohner danach ihre Städte selbst wieder aufgebaut und sich mit Zuwanderern – etwa Israeliten und Seevölkern – vermischt haben.

Polytheismus hielt noch lange vor

Um den Zuzug der Israeliten zu belegen, suchen Archäologen nach Fundamenten so genannter Vierraumhäuser. Auch auf dem Tell Zira'a findet sich dieser Haustyp ab 1.200 vor Christus. "Aber wir haben in der selben Zeit auch Häuser entdeckt, die für die vorhergehende Epoche typisch waren", sagt Jutta Häser. Es spreche deswegen einiges dafür, dass der kulturelle Umbruch eher sanft verlief und es sich eben nicht um eine abrupte Landnahme handelt, wie im Alten Testament beschrieben. Jedenfalls auf dem Tell Zira'a. Das zeigten auch ausgegrabene Keramiken und Figurinen.

[listbox:title=Mehr im Netz[Informationen zum archäologischen Projekt auf dem Tall Zira'a##Eine 3D-Rekonstruktion der Ausgrabungsstätte##Rund um das Kinderbuch "Das Geheimnis des Tells"##Online-Auftritt des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes]]

Ausgegraben sind bisher nur das Areal der Wohnhäuser und ein Teil der Stadtmauer. Demnächst soll die Erschließung des vermuteten Tempelareals beginnen. "Dann bekommen wir hoffentlich nähere Erkenntnisse über die religiösen Vorstellungen der Menschen", sagt Dieter Vieweger. In einem Wohnhaus sei bereits eine Figurine aus alttestamentlicher Zeit aufgetaucht, die den syrischen Gott El in segnender Haltung darstellt.

Aus der selben Zeit stammen Keramikbehälter – sogenannte Götterhäuser – die als Miniaturtempel genutzt und mit Götterstatuetten bestückt wurden. "Das spricht dafür, dass polytheistische Bräuche bis weit in die alttestamentliche Zeit überdauert haben." Um zu einem umfassenden Urteil zu kommen, ist es noch ein langer Weg. "Wir haben nachgerechnet", sagt Jutta Häser und lacht. "Wenn wir wie bisher weitergraben – mit 75 Helfern zehn Wochen pro Jahr – haben wir bis zur Rente ungefähr fünf Prozent des Hügels erschlossen."

Buchtipps:

Dieter Vieweger/Claudia Voigt/Rike Rabe: "Das Geheimnis des Tells. Eine archäologische Reise in den Orient", Philipp von Zabern Verlag, 80 Seiten, 19,80 Euro

Dieter Vieweger: "Archäologie der biblischen Welt", Gütersloher Verlagshaus, 496 Seiten, 39,99 Euro (erscheint im November 2011)


Thomas Becker ist freier Journalist und lebt in Düsseldorf. Vor kurzem war er in Israel und Jordanien.