"Wenn ich male, bin ich nicht mehr in meiner Zelle"
In vielen deutschen Haftanstalten gehört künstlerische Arbeit zum Alltag. Die Gefängnisinsassen malen, töpfern, betätigen sich als Bildhauer oder Steinmetze. Dabei sollen sie lernen, sich mit sich selbst auseinander zu setzen.
17.10.2011
Von Petra Neu

Es ist ein schlichter Raum in der Justizvollzugsanstalt Rosdorf bei Göttingen. An den Wänden hängen Bleistiftzeichnungen von Glasflaschen und Keksdosen. "Heute sprechen wir über die Perspektive", sagt der Gefängnisseelsorger Henning Goeden. In der Hand hält er ein Bild des Malers M. C. Escher, die endlose Treppe. "Man geht und geht und kommt nicht an. Das kenne ich irgendwo her", sagt der Inhaftierte Joachim Kaddich (Name geändert). "Ja, darüber sollten wir unbedingt reden", entgegnet Goeden.

Jede Woche treffen sich sechs Gefangene zur Kunstgruppe, die der evangelische Seelsorger im Jahr 2007 gegründet hat. Goeden vermittelt ihnen Kunstgeschichte und erzählt von Dali, Picasso oder dem Kubismus. Doch vor allem malen sie selbst. Über Farben und Formen kommen sie ins Nachdenken und ins Gespräch. Joachim Kaddich hat eine Marienfigur zu Papier gebracht. "Das ist schön", lobt ein anderer Gefangener das Werk des Häftlings mit den bunt tätowierten Armen. "Man bekommt Kritik, aber auch Anerkennung", sagt Kaddich. Sonst erlebe er das selten.

Atelier im geschlossenen Männervollzug

In fast allen niedersächsischen Justizvollzugsanstalten gehören kunsttherapeutische Projekte zum Alltag, sagt Georg Weßling, Sprecher im Justizministerium. Im offenen Männervollzug Lingen-Damaschke etwa wurde eine Steinmetzwerkstatt eingerichtet, im geschlossenen Männervollzug Oldenburg ein Atelier. In Hameln können straffällige Jugendliche malen, töpfern, Gedichte schreiben und Musik machen. Die Justizvollzugsanstalt für Frauen in Vechta zeigt jährlich bis zu vier Ausstellungen, auch mit Werken der Inhaftierten. Ähnliche Kunsttherapie-Projekte gibt es auch in anderen Bundesländern.

In der Bremer Justizvollzugsanstalt entwerfen schon seit 32 Jahren Gefangene Skulpturen aus Ton, Holz und Keramik in einer eigens eingerichteten Bildhauerwerkstatt. "Das sind keine reinen therapeutischen Maßnahmen", sagt Werkstattleiterin Martina Benz vom Trägerverein "Mauern öffnen". Die Gefangenen bekommen Geld für ihre Arbeit. Die Skulpturen stehen etwa vor Kindergärten und Altenheimen. "Aber natürlich schwingt immer auch viel mit, wenn ein Inhaftierter einen Adler modelliert", sagt Benz. In Bremen hilft die Kunst seit einigen Jahren auch ehemaligen Gefangenen bei der Suche nach neuen Perspektiven. Bis zu sechs von ihnen können in einer Außenwerkstatt der JVA mitarbeiten. Sie stellen Skulpturen auf, restaurieren sie und entfernen Graffitis.

In Rosdorf sind es kriminell gewordene, gestandene Männer, die regelmäßig die Kunstgruppe besuchen. Draußen haben einige von ihnen richtig schlimme Dinge getan, sagt Seelsorger Goeden. Die Kunst bricht ihren Gefängnisalltag auf, der morgens um 6 Uhr 45 beginnt. Wer darf, arbeitet in der Essensausgabe, dem gefängniseigenen Lebensmittelmarkt, in der Wäscherei. Eine kurze Zeit werden die 8,5 Quadratmeter großen Zellen geöffnet, auf den Fluren tönt der Fernseher, Musik, es wird gekocht, durcheinander geredet.

Ein Leben lang im Schatten gestanden

"Hier im Kunstraum ist es viel ruhiger", sagt Kaddich. Und: "In der Gruppe kann ich offen über alles sprechen." Seelsorger Goeden erzählt eine Geschichte aus der Bibel. Die Gefangenen zeichnen, was ihnen dazu einfällt und diskutieren darüber. So kommen sie ins Gespräch über ihre Vergangenheit, die Zukunft, Angehörige, Sorgen, Ängste und Möglichkeiten. "Manchmal zeigt sich, dass jemand ein Leben lang im Schatten stand", sagt Goeden.

Der Seelsorger organisiert auch Ausstellungen. Zuletzt wurden Werke der Häftlinge im Göttinger Verwaltungsgericht gezeigt. "Mir gibt es viel, wenn Leute von draußen meine Bilder sehen", sagt Joachim Kaddich, der schon seit Jahren im Knast sitzt. "Wenn ich male, bin ich nicht mehr in meiner Zelle. Das ist wie ein Stückchen Freiheit."

epd