Warum fast alle Isländer Christen und Saga-Fans sind
Im Jahr 1000 entschied ein weiser Häuptling, dass alle Isländer getauft werden sollten. Trotzdem durften sie weiterhin an ihre alten Götter glauben. Diese Entscheidung sicherte den Frieden und ermöglichte eine reiche Schriftkultur auf der Insel.
12.10.2011
Von Andrea Walter

Woran die Isländer glauben? Nun, man könnte es sich einfach machen und sagen: 77,64 Prozent der Bevölkerung sind evangelisch, 3,21 Prozent katholisch, 0,53 Prozent zählen zur Ásatrúgemeinde – verehren also die alten germanischen Götter, 0,29 Prozent sind Buddhisten und 0,09 Prozent Muslime (was weniger als 300 Leute sind!). Nur um ein paar Zahlen zu nennen. Aber damit kommt man dem Kern des isländischen Glaubens nicht auf die Schliche.

Im Jahr 1000 wurde in Thingvellir (l.) die Annahme des Christentums beschlossen. Foto: iStockphoto

Es lohnt vielmehr, einen Blick in die Geschichte des Landes zu werfen. Irische Mönche waren vermutlich die ersten, die sich auf der unwirtlichen Insel im Nordatlantik niederließen. Allerdings verschwanden sie wieder, als die ersten dauerhaften Siedler kamen.

Das war im Jahr 874, und die Siedler waren vor allem Norweger, die keltische Sklaven von den Britischen Inseln mitbrachten. Während es unter den Kelten einige Christen gab, glaubte der Großteil der neuen Siedler vor allem an die Asen – die kriegerischen Götter aus der nordischen Mythologie.

Massenkonversion im Jahr 1000

Göttervater Odin zum Beispiel war beliebt oder Donnergott Thor, aber auch Baldur, der Gott der Gerechtigkeit des Lichtes (kein Wunder bei den dunklen Wintern!). Man findet die alten Götter bis heute in Reykjavík wieder: in den Namen der Straßen oder denen von Hotels, Clubs oder Gästehäusern.

Allerdings wandte man sich im Jahr 1000 offiziell von den alten Göttern ab. In Island passierte nämlich etwas Besonderes: Das Christentum wurde, im Gegensatz zu anderen Ländern, nahezu unblutig eingeführt. Warum? Ganz einfach: weil man sich auf einer Versammlung des Althing, des alten Parlaments, dafür entschied. Aus praktischen Gründen.

Es war so: Nachdem der Rest Europas bereits christlich war, sandte der norwegische König Missionare nach Island. Doch die wurden – nach ein paar Anfangserfolgen - bald wieder verjagt. Ein frustrierter Missionar klagte nach seiner Rückkehr: Die Isländer seien von Natur aus schlecht und es sei zweifelhaft, ob sie jemals christianisiert werden würden. Was wiederum den norwegischen König so wütend machte, dass der Handel zwischen den beiden Ländern in Gefahr war.

Außerdem drohte in Island ein Religionskrieg auszubrechen, was bei einer so kleinen Bevölkerung verheerend gewesen wäre. Und so ließ man auf der Thingversammlung im Jahr 1000 einen weisen Häuptling über die Sache entscheiden. Sein Urteil samt Kompromissangebot: Alle Isländer sollten als Christen getauft werden. Des lieben Friedens wegen. Doch im Geheimen war es innerhalb einer Übergangsfrist weiterhin erlaubt, den alten Göttern zu dienen.

Ohne Toleranz und Schriftkultur gäbe es die Sagas nicht

Wie genial diese Entscheidung wirklich war, stellte sich erst viele Jahre später heraus. Ihr verdanken wir nämlich unter anderem die wunderbare isländische Literatur des Mittelalters. Klingt absurd? Ist es nicht! Denn während die Dichtungen und Götterlieder aus jener Zeit in den anderen Teilen Europas vielfach verloren gingen, weil sie als Zeichen des Heidentums verfolgt und vernichtet wurden, blieben sie dort oben im Norden erhalten. Einfach, weil man toleranter war.

Hinzu kam, dass mit den ersten Bischöfen die Schrift nach Island kam – und so schrieben die Gelehrten die Götterdichtungen in Folge sogar auf. Und nicht nur die: im 13. und 14. Jahrhundert entwickelte sich gar eine ganz neue Gattung der Literatur: die berühmten Sagas. Fiktive Heldengeschichten, die vor allem von der Landnahmezeit der Insel erzählen. Die Isländer waren nämlich seit jeher versessen auf Geschichten. Aus einem einfachen Grund: Man brauchte Geschichten, wie andere die Religion. Um Durchzuhalten und nicht verrückt zu werden in den endlosen, dunklen Wintern in den Torfgehöften auf dieser menschenfeindlichen Insel.

Man kann also getrost behaupten, dass die Isländer nicht nur an Gott, sondern auch an Geschichten glauben. Und das bis heute. Was sie wiederum zum perfekten Kandidaten für die Frankfurter Buchmesse macht. Und für mich als Journalistin: zum perfekten Ort, um Geschichten zu recherchieren.


Andrea Walter, geboren 1976, lebt als freie Autorin in Berlin. Seit einem Journalistenstipendium bei Islands Tageszeitung Morgunbladid hat das kleine, verrückte Land im Nordatlantik sie nicht mehr losgelassen. Ihr Buch über die Insel soeben erschienen: "Wo Elfen noch helfen. Warum man Island einfach lieben muss", Diederichs, 208 S., 14,99 Euro