Elfen, Trolle und das Wunder der Glaubensglut
Im Land der Elfen und Trolle sind 78 Prozent der Menschen evangelisch-lutherisch. Doch zum Gottesdienst kommen nur wenige von ihnen - die Säkularisierung erreicht auch den letzten Winkel der Erde. Anlässlich der Frankfurter Buchmesse mit Island als Partnerland könnte die Kirche an der Schreib- und Lesefreude der Isländer anknüpfen: Schließlich ist der evangelische Glaube auf das Wort konzentriert.die isländische Kirche Island, das Land der Vulkane und Geysire, der Wikingergeschichte und des Elfenglaubens. Wie lebt es sich für Christen auf der nördlichsten Insel Europas? Uwe Birnstein war dort und hat sich umgesehen.

1783: Asche färbt den Himmel grau. In der Ferne speit der Vulkan Laki glühende Massen. Todbringende Lavaströme rollen Richtung Meer und begraben alles unter sich: Bauernhöfe, Menschen, Vieh. Nichts kann die Todeswalze aufhalten. Wirklich nichts? Pastor Jón Steingrímson will das nicht glauben. Während die Glut auf sein Dorf Kirkjubæjarklaustur an der Südküste Islands zurollt, ruft er am 20. Juli die Menschen in die Kirche. Leidenschaftlich predigt der Geistliche von der Macht Gottes, inbrünstig betet die Gemeinde. Und siehe: Der Lavastrom stoppt und verschont die Kirche. Ein Wunder.

Andere Isländer haben nicht so viel Glück. Neuntausend Menschen, damals ein Fünftel der Bevölkerung Islands, sterben an den Folgen des Ausbruchs. Unvorstellbare zwölf Kubikkilometer Lava ergießen sich über die Insel. 100 Millionen Tonnen Schwefeldioxid bedecken Westeuropa mit wabernden Nebelwolken. Der übel riechende Ascheregen macht den Menschen Monate lang zu schaffen und lässt sie erkranken. Er verdunkelt die Sonne bis nach Malta – so sehr, dass auf dem Atlantik Schiffe kollidieren. Der folgende Winter wird in Europa und Nordamerika außergewöhnlich kalt. Eine weitere Folge: Der Pegel des Nil sinkt, Hunderttausende Menschen in Nordafrika leiden unter Hungersnöten.

Ein Vulkanausbruch steht bevor - die Angst wächst

Das ist keine einmalige Katastrophe aus der Vergangenheit. Seit Urzeiten bricht in Island alle paar Jahre die Erde auf und gibt ihr Innerstes preis. Wer in Island lebt, kann Schöpfung live erleben. Mit allen Schönheiten und mit allen Gefahren. Berge entstehen, Flüsse suchen sich neue Läufe, Küstenlinien ändern sich. An vielen Orten zischt es aus der Erde, manchmal so stark, dass Fontänen heißen Wassers hundert Meter hoch in den Himmel schießen. Hier und dort blubbert und schmatzt fahler Schlamm und gibt gar gräuslichen Schwefelgeruch frei. Der größte Gletscher Europas, der Vatnajökull, umhüllt das heiße Erdinnere. Wer am Fuße der trügerischen Kälte lebt, weiß: Unter dem Eis lauert die Glut und kann riesige Schlammlawinen freisetzen, die alles mit sich reißen.

Den Intervallen der Eruptionen zufolge steht ein großer Ausbruch unmittelbar bevor. Die Angst wächst. Der Ausbruch des Eyjafjallajökull im Jahr 2010, der Aschemassen in die Atmosphäre pustete, war nur ein Vorgeschmack des Ausbruchs, der kommen wird - wahrscheinlich beim Hekla, dem größten Vulkan Islands. "Tor zur Hölle" nennen ihn die Einheimischen seit dem Mittelalter. Die Angst vor dem Ausbruch bewegt die Menschen. Doch in die Kirchen treibt sie sie nicht. Im Gegenteil. Auch die isländischen Gläubigen kehren ihren Kirchen den Rücken zu. 

Am meisten hat darunter die evangelisch-lutherische Kirche zu leiden. 247.000 Menschen sind ihr zugehörig, fast 78 Prozent der Bevölkerung. Tendenz abnehmend. Über tausend Jahre war die Kirche Garant für Kontinuität in der isländischen Geschichte. Im Jahr 2000 feierte sie die tausendste Wiederkehr der Christianisierung Islands. Bemerkenswert schnell hatte sich die Reformation im 16. Jahrhundert durchgesetzt. Als Staatskirche genießen die Protestanten seitdem besondere Privilegien. Doch der Schutz durch die Obrigkeit hilft nicht gegen den Vertrauensabbruch.

Die isländische Kirche und die neuen sozialen Probleme

Der hat seine Ursache unter anderen in einem leider weltumspannenden und konfessionsübergreifendem Phänomen. Auch Islands Lutheraner müssen sich dem Thema "sexueller Missbrauch" stellen. Nachdem ihr Bischof Ólafur Skúlason im Jahr 1997 "aus persönlichen Gründen" von seinem Amt zurückgetreten war, bezichtigten drei Frauen ihn sexueller Übergriffe. Sein Nachfolger, der amtierende Bischof Karl Sigurbjörnsson, musste sich mit Vorwürfen des Verschweigens und Vertuschens stellen. Eine Zahlung hoher Geldsummen an die betroffenen Frauen brachte Ruhe, aber wenig Licht in das Dunkel. Nun müht sich die lutherische Kirche, verlorenes Vertrauen wieder aufzubauen.

Bischof Karl Sigurbjörnsson. Foto: Kolja Warnecke

Islands Kirchen spüren: Die Säkularisierung erreicht auch den letzten Winkel der Erde. Hinzu kommen die Auswirkungen der Finanzkrise, die Island vor drei Jahren an den Rand der Insolvenz trieb. Mit Disziplin und Gemeinschaftsgeist retteten die Isländer ihr Land vor der Pleite. Die Opfer der Krise haben ihren Job oder ihr Haus verloren und leben in Sozialwohnungen am Rande Reykjaviks. Dass sie auch kirchliche Hilfe nötig haben, wird der Kirche erst neuerdings bewusst. Eine Diakonie gab es bislang auf Island nicht. "Sie war gar nicht nötig. Familien und Nachbarschaften kümmerten sich", sagt Pastor Kristján Valur Ingólfsson. Im lutherischen Kirchenamt an der belebten Reykjaviker Einkaufsstraße Laugavegi ist er für Gottesdienst und Liturgie zuständig. Er weiß, dass die Kirche Islands Nachholbedarf hat. 

Doch wie soll sie den neuen sozialen Aufgaben nachkommen, wo sie angesichts der allgemeinen Sparanstrengungen Stellen streichen muss? Dabei ist äußerlich fast nicht zu erkennen, dass die isländische Kirche unter Geldmangel leidet. In den größeren Städten wie Reykjavík, Kópvagur und Akureyri überragen futuristisch anmutende Bauten das Stadtbild. Sogar manches Hundert-Seelen-Dorf hat sich ein modernes Kirchlein gegönnt. Doch gefüllt sind sie nur an Feiertagen. "Offensichtlich sind mehr Architekten als Theologen in den Kirchenvorständen", mutmaßt Pastor Ingólfsson und erzählt, wie die 130 Gemeindepastoren versuchen, in rund 250 weit auseinander liegenden und kleinen Gemeinden Gottesdienste und Seelsorge anzubieten. Die Hilfe anderer Kirchen ist überschaubar: Nur rund 10.000 Gläubige bekennen sich zur römisch-katholischen Kirche; etwa doppelt so viele zu einer der teils vom US-Evangelikalismus beeinflussten Freikirchen. Die größte Kirche zu sein, kann auch eine Last sein – das spüren die staatskirchlichen Lutheraner.

Troll-Knubbelnasen und Bergfeen-Hüte in den Felsen

So große Probleme die moderne Christenheit hat, umso mehr bemüht sich das Land darum, seine christlichen Wurzeln ans Licht zu befördern. Zum Beispiel in Skriduklaustur im Osten Islands. Im Jahr 1493 gründeten bildungsbeflissene Augustinermönche hier ein Kloster. Dessen Grundmauern legen junge freiwillige Helfer aus aller Welt. Ein Bayer leitet das Team der isländischen Organisation "Seeds": Florian Schweinberger. Der 27jährige Münchener nutzt seinen Resturlaub, um in der Natur Islands Sinnvolles zu tun. Die Rekonstruktion der Klosterruinen und des angrenzenden Friedhofs gibt Aufschluss über das kirchliche Leben des Mittelalters, ebenso über Krankheiten und Bestattungskultur. Und das alles inmitten einer oft unwirtlichen Natur, die den Menschen bis heute viele Beschwernisse abverlangt.

Zum Beispiel Pisten, deren Schlaglöcher nur langsamstes Fahren erlauben. Sie führen durch Lavalandschaften, soweit das Auge reicht. Bizarre Formen, wie in Stein erstarrte Blasen, blau und grau, löchrig und porös, an vielen Stellen von feinen Flechten und weichem Moos bedeckt. Man muss nur genau hinschauen: Da, dieser Absatz, ist das nicht die Knubbelnase eines Trolls? Und die Spitze dort der Hut einer Bergfee? Die Naturwesen gehören zur Vorstellungswelt der Isländer. Der kommerzielle Hype, den sie in den letzten Jahren erfahren haben, tut ihnen Unrecht. Touristen springen gerne auf das Thema Elfen und Trolle an, besuchen Ausstellungen über das "Hulduvolk", kaufen Bücher oder erwerben bei findigen Anbietern ein "Elfen-Diplom".

Die Isländer lesen und schreiben gern

Die Isländer selbst gehen ganz unspektakulär an das Thema heran. Naturwesen gehören zur isländischen Kultur wie Sagen und Märchen. Die alte Überlieferung bietet sogar eine biblische Antwort auf die Frage, woher die Elfen eigentlich kommen. Sie seien Kinder von Adam und Eva. Als Gott deren Kinder sehen möchte, sind einige nicht gewaschen, so dass Mutter Eva sie vor Gott zu verbergen versucht. Und weil sie vor Gott unsichtbar sein sollten, leben sie heute unsichtbar vor den Menschen in Erdhügeln, Klippen und Felsspalten. Wenn der Wind durch die Lavaskulpturen und Birkenwäldchen pfeift und sich die Dämmerung über die Weiten legt, sind sie zu erkennen. Wenn man sich denn der Stille und der Dunkelheit stellt.

Und nicht gerade ein Buch liest. Denn die Isländer sind ein lesefreundliches Volk. Zweieinhalb Millionen Bücher werden im Jahr gekauft – bei 320.000 Einwohnern eine stolze Zahl. Die Isländer lieben Geschichten, viele schreiben ihre eigenen und veröffentlichen sie im Eigenverlag. Auf der Frankfurter Buchmesse werden viele präsentiert. Island steht dort in diesem Jahr als Partnerland im Fokus der literarischen Welt.

Die Bücherliebe ist ein Anknüpfungspunkt für die evangelische Kirche. Denn auch der evangelische Glaube ist auf das Wort konzentriert. Bischof Karl Sigurbjörnsson zieht eine große, prächtige Bibel aus dem Regal: Ein Nachdruck der Gudbrandsbiblía, der ältesten Bibel in isländischer Sprache, gedruckt im Jahr 1584. Ihre Leselust könnte die Isländer auch wieder zur Bibel führen. Die Chancen stehen nicht schlecht, dass sie unter der oft als kühl und erstarrt empfundenen Kirche jene Glaubensglut entdecken, die einst Wunder bewirkte.


Uwe Birnstein ist Theologe, lebt in Berlin und arbeitet als Journalist für Zeitschriften, Hörfunk und Fernsehen.