"Diese Regierung macht Politik nach dem Matthäus-Prinzip"
Eine sozialpolitische Halbzeitbilanz der christlich-liberalen Koalition zieht Christoph Butterwegge, Geschäftsführender Direktor des Instituts für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln, im Gespräch mit evangelisch.de. Er krititisiert, dass sich die Parteien, die das "C" im Namen führen, nicht in irgendeiner Weise christlicher Moral und Ethik verpflichtet fühlen.
05.10.2011
Die Fragen stellte Markus Bechtold

Wie fällt die Halbzeitbilanz der CDU/CSU/FDP-Koalition sozialpolitisch aus? Stärkt diese Koalition den gesellschaftlichen Zusammenhang oder vergrößert sich unter ihrer Führung die Kluft zwischen Arm und Reich?

Christoph Butterwegge: Aus meiner Sicht fällt die Bilanz negativ aus. CDU, CSU und FDP sind dem Anspruch, der im Koalitionsvertrag formuliert worden ist, den gesellschaftlichen Zusammenhang zu fördern, nicht gerecht geworden. Im Gegenteil ist eine immer deutlichere soziale Spaltung festzustellen: Auf der einen Seite hat sich nach der Finanzkrise in relativ kurzer Zeit das Vermögen der Reichsten noch weiter vergrößert. Auf der anderen Seite nimmt die Zahl der Armen zu. Beides hat wesentlich mit der Politik dieser Bundesregierung zu tun.

Wer profitiert also von der Koalition, wer gehört eindeutig zu den Verlierern?

Butterwegge: Die CDU/CSU/FDP-Koalition hat vor allem Politik für ihre Klientel gemacht. Das gilt nicht nur für die Hoteliers, deren Verdienstmöglichkeiten durch die Mehrwertsteuersenkung verbessert wurden. Sondern das gilt auch für die Erben von Familienunternehmen. Die sind inzwischen so gut gestellt, dass Kinder von solchen Unternehmern ganze Konzerne erben können, ohne einen einzigen Cent betriebliche Erbschaftssteuer zahlen zu müssen. Hingegen leiden Menschen, die Hartz IV beziehen, gering qualifiziert sind und im Niedriglohnsektor arbeiten, unter der Regierungspolitik. Mit der Neuregelung bei Hartz IV wurde die Höhe der Regelsätze kaum verändert.

Das gilt besonders für Kinder und Jugendliche, deren Regelsätze eingefroren wurden. Sie hat man mit einem "Bildungs- und Teilhabepaket" abgespeist, das seinen Namen überhaupt nicht verdient, weil es höchstens ein Päckchen, eher aber eine sozialpolitische Mogelpackung ist. Mit dem so genannten Zukunftspaket der Bundesregierung 2011 bis 2014 sind Kürzungen vorgenommen worden, die ganz besonders die Armen und sozial Benachteiligten treffen. Von der Bundesregierung ist gezielt Politik gegen Geringverdiener, gegen Langzeitarbeitslose und gegen Gruppen gemacht worden, die ohnehin schon zu den Verlierern gehören, wohingegen die Gewinner in ihrer Vermögensposition weiter gestärkt wurden.

Ist Armut ein Thema, das politisch ernst genommen und auch bekämpft wird? Bedroht Armut in Deutschland unsere Demokratie?

Butterwegge: Ich habe den Eindruck, dass diese Bundesregierung eine Politik gegen die Armen macht, während die Armut gar nicht bekämpft wird. Wenn man auf diese Art die soziale Spaltung in der Gesellschaft vorantreibt, wenn man immer mehr Menschen von gesellschaftlicher Teilhabe abhängt, dann untergräbt das die Demokratie. Demokratie ist mehr als lediglich alle vier oder als fünf Jahre zur Wahlurne zu gehen. Demokratie bedeutet für mich, den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess beeinflussen zu können. Und das kann jemand nicht, der materiell so schlecht gestellt ist, dass er von Hartz IV leben muss und ständig unter dem enormen Druck steht, den die Jobcenter inzwischen ausüben.

Wenn sich etwa eine alleinerziehende Mutter im Hartz IV-Bezug fragt, welche Anträge sie stellen muss, um eine Klassenfahrt für ihre Kinder bezahlt zu bekommen, wird sie kaum in der Lage sein, an der politischen Willensbildung im Land teilzunehmen. Ich glaube, dass dadurch die Demokratie immer mehr in Gefahr gerät.

Mit Armut und mit sozialer Bedürftigkeit geht einher, dass Menschen eher rechten Demagogen auf den Leim gehen können. Wer das Gefühl hat, in unserer Gesellschaft immer weniger beachtet zu werden, wer den nicht unbegründeten Eindruck bekommt, dass die soziale Gerechtigkeit in unserem Land immer öfter auf der Strecke bleibt, der wird möglicherweise auch von Propaganda angesprochen, die fordert, das demokratische System zu beseitigen, weil die Politiker alle korrupt und volksfern seien. Eine Propaganda, die besagt, dass wir die demokratischen Parteien durch einen Führer, der alles ganz anders macht, ablösen und ersetzen müssten. Ich glaube, dass die Gefahr des Rechtsextremismus und des Rechtspopulismus zunimmt, wenn so einseitig gegen die Armen und gegen die sozial Benachteiligten in unserer Gesellschaft Politik gemacht wird, wie das die amtierende Bundesregierung tut.

Vernachlässigt die CDU das "christliche Menschenbild" in ihrer Führung?

Butterwegge: Ja, denn man kann nicht mehr erkennen, dass sich die Parteien, die das "C" im Namen führen, noch in irgendeiner Weise christlicher Moral und Ethik verpflichtet fühlen. Ich sehe eher, dass diese Regierung eine Politik nach dem Matthäus-Prinzip macht. Denn im Evangelium des Matthäus heißt es sinngemäß: "Wer hat, dem wird gegeben und wer wenig hat, dem wird auch das noch genommen." Insbesondere auf dem Feld der Steuerpolitik sieht man, dass die Reichsten im Lande begünstigt werden, während bei den Menschen, die ohnehin sehr wenig haben, gekürzt wird. Die über Geld verfügen, werden als "Leistungsträger" angesehen, die entlastet werden müssen. Es ist augenfällig, dass die CDU/CSU/FDP-Koalition das Besitzbürgertum hofiert, aber sehr, sehr wenig für Menschen tut, die unterprivilegiert sind.

Wie könnte eine Lösung Ihrer Meinung nach aussehen? Welche Partei setzt sich am meisten für einen sozialverträglichen Umgang miteinander ein?

Butterwegge: Die regierenden Parteien eignen sich am wenigsten dafür, die soziale Spaltung im Land zu überwinden. Ein flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn würde beispielsweise helfen, den Niedriglohnsektor und die Armut einzudämmen. Dagegen wehrt sich die FDP heftig, aber auch in der CDU/CSU ist ein Mindestlohn immer noch umstritten, wenngleich die jüngsten Äußerungen von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen darauf hindeuten, dass der Widerstand innerhalb der Union langsam schwächer wird.

Helfen würde auch eine Politik, die durch Einführung einer Finanztransaktionssteuer, die Wiedererhebung der Vermögenssteuer und mit einem deutlich höheren Spitzensteuersatz bei der Einkommenssteuer besonders die Profiteure des Finanzmarktes an den Kosten ihrer Spekulationen und an der Behebung jener Übel, die sie in den letzten Jahren angerichtet haben, angemessen beteiligt. Dazu sehe ich aber in CDU, CSU und FDP überhaupt keine Bereitschaft. Zwar wird über eine Finanztransaktionssteuer geredet, gleichzeitig wird aber der Eindruck erweckt, dass man es am liebsten hätte, wenn sie nicht wirklich erhoben würde. Zu mehr Gerechtigkeit in der Steuerpolitik wären vermutlich alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien eher in der Lage als CDU, CSU und FDP.


Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geboren 1951 in Albersloh in Westfalen, ist Geschäftsführender Direktor des Instituts für Vergleichende Bildungsforschung und Sozialwissenschaften an der Universität zu Köln. Er studierte Sozialwissenschaft, Rechtswissenschaft, Psychologie und Philosophie in Bochum und habilitierte 1990 im Fach Politikwissenschaften. Eine sozialpolitische Halbzeitbilanz der amtierenden Bundesregierung findet sich in seinem Buch "Krise und Zukunft des Sozialstaats", das in erweiteter Auflage im VS - Verlag für Sozialwissenschaften erscheint.

Markus Bechtold ist Redakteur bei evangelisch.de.