"Wir sind keine Eventkirche!" Das stellt Susanne Zingel schon mal klar. Sylt mag die "Insel der Reichen und Schönen" sein, aber die Fragen, mit denen die Menschen in die St. Severin-Kirche in Keitum kommen, sind existenziell. Die Insellage und ihre Auswirkungen auf die Menschen und ihre Seele - das macht für die 50-Jährige einen Teil der Faszination ihrer Kirche aus.
"Wir sind leidenschaftliche Pastoren"
2005 übernahm sie die Pastorenstelle in Keitum von Traugott Giesen. Er war sehr präsent in der Öffentlichkeit, galt als sogenannter Promipastor und schrieb Bücher wie "Sylt für die Seele". Die Erwartung, ebenso medienwirksam zu agieren, habe sie auch gespürt, sagt die in Lübeck aufgewachsene Pastorin. "Manche waren mitleidig, sagten, das sind große Fußstapfen, in die Sie treten." Der Begriff Promipastorin passe für sie aber gar nicht. "Wir sind leidenschaftliche Pastoren", das treffe es eher.
Pastorin Susanne Zingel. Foto: dpa/Christian Charisius
Überhaupt sei Sylt nicht frei von gesellschaftlichen Problemen. "Wir werden weniger", sagt Zingel. Sie erlebte selbst, wie die Schulklasse ihres Kindes zusammenschrumpfte. "Jetzt haben wir mehr zu tun als Kirche, weil wir mehr aufeinander angewiesen sind." Die Menschen ziehen weg, weil das Leben auf Sylt zu teuer geworden ist. Manch einer müsse drei Jobs haben, um sich Wohnraum leisten zu können. "Die Familie können sie dann nicht mehr sehen." Die Leute sagten sich, "Geld spielt auf Sylt keine Rolle, und du kannst dir nicht mal das Nötigste leisten?" Aber auch die Menschen mit üppigerem Bankkonto kommen in den Ferien mit ihren Sorgen in die Kirche: "Die sagen, diese Woche ist kostbar", in der übrigen Zeit frisst die Arbeit sie auf. "Alle arbeiten sich ab an Sinn und Glück."
Zingel war vor dem Umzug nach Sylt in Hamburg tätig. Dort aber sei die Gemeinde "gesättigt". Vielfältiger sei die Arbeit in Keitum, findet die Pastorin, deren Lieblingsplatz der Tierpark Tinnum ist, die "Arche Noah" von Sylt. "Eine Gemeinde muss sich weiterentwickeln, und hier kommen ständig neue Leute an." Überhaupt, die Insellage: "Hier entgeht man dem Meer nicht, die Faszination und Gefährdung durch das Meer ist immer da."
Der Fels in der Brandung
Als einstige Seefahrerkirche sei St. Severin auch früher Schauplatz von Abschieden gewesen. "Wenn die Liebenden sich hier gefunden haben, musste der Kapitän schon wieder gehen." Da erkenne man: "Wir sind nur Gäste." Angst vor dem Friedhof haben die Menschen hier auch nicht, hat Zingel beobachtet. Sie sehen von dort das Meer, das hat eine beruhigende Wirkung. "Die Menschen sind sehr angefasst", findet die Pastorin. "Als wenn Ebbe und Flut auch durch die Seele gehen." In Touristenstädten wie Florenz sei man abgelenkt, auf Sylt gebe es ein "existenzielles Nachspüren". St. Severin ist dann der Fels in der Brandung.
Die Kirche auf einer Anhöhe ist von weitem zu sehen, mit ihrem breiten Backsteinturm wirkt sie fast wie eine Trutzburg. 1.000 Besucher verzeichnet St. Severin pro Tag in der Hochsaison, Touristen und Einheimische halten sich etwa die Waage. Rudolf Augstein ist hier begraben, der Tennisspieler Michael Stich schloss hier den Bund fürs Leben. Das Gästebuch der vergangenen Monate, das Zingel stolz vorzeigt, ist fast voll. Im Juli waren Wolfgang Schäuble und Kurt Biedenkopf Gast bei einem Konzert der Deutschen Stiftung Musikleben.
Wirklich wichtig ist der 50-Jährigen aber, die Kirche noch mehr für Kinder und Jugendliche zu öffnen. "Die Facette fehlt noch." Zudem hat die Gemeinde gerade mit der Erforschung der Geschichte ihrer Kirche, diesem "magischen Anziehungsort", begonnen. Es gebe Verbindungen nach Dänemark, erzählt Zingel, früher habe die Kirche Knudskirche geheißen, nach dem dänischen König. Gerade ist die Pastorin von einer Reise nach Jütland zurückgekehrt. Viele Informationen seien aber durch Sturmfluten "im Dunkeln versunken". Der Wunsch der Pastorin: "Wir wollen nachhaltig daran arbeiten, dass St. Severin die nächsten 100 Jahre erhalten bleibt."