Die Nachwuchs-Toreros von Madrid üben das Töten
Erst vor wenigen Tagen hat Katalonien den Stierkampf verboten - doch für manche Jungen in der Hauptstadt bleibt er die liebste Nachmittagsbeschäftigung. Sie besuchen eine staatlich geförderte Stierkampfschule. Mitleid mit den Tieren und Skrupel sind ihnen fremd.
04.10.2011
Von Simon P. Balzert

Donnerstagabend, kurz vor 18 Uhr an einer Sporthalle in Madrid. Etwa 20 Jugendliche zwischen elf und Anfang zwanzig machen sich warm. Sie spielen auf einem sandigen Sportplatz Fußball. Genauso wie in Deutschland gehen viele junge Spanier nach der Schule in einen Verein, um Fußball oder Basketball zu spielen. Sie reden über Musik, Real Madrid und über Mädchen. Als sie die Halle betreten – das Training beginnt um 18 Uhr – wird schnell deutlich, dass sie nicht hier sind, um Fußball oder Basketball zu spielen. Die Halle gehört zur Escuela de Tauromaquia Marcial Lalanda, zur Stierkampfschule in Madrid.

Wie in anderen Sporthallen leuchten auch hier unangenehm helle Scheinwerfer den Raum aus, und die Hallenakustik transportiert Lachen und Satzfetzen der Jugendlichen quer durchs Gebäude. An den Wänden hängen die Bilder von Torero-Legenden und Plakate vergangener Stierkämpfe. "Ein richtiger Star-Torero zu werden ist fast unmöglich", steht auf Spanisch an einer Wand. Macht euch bloß keine falschen Hoffnungen, lautet die Botschaft. Mehrmals wöchentlich trainieren die Jugendlichen dennoch für ihren Traum, gefeierte Stierkämpfer zu werden.

Das Training beginnt. Sie finden sich in Paaren zusammen, jeweils einer muss als Torero mit rotem Tuch und Degen seinem Partner ausweichen, der als Stier in gebückter Haltung, schnaubend und mit einer Stange, an deren Enden sich zwei Hörner befinden, auf ihn zuläuft.

Wie in einer echten Arena dreht sein Partner sich und sein rotes Tuch hoch konzentriert und mit voller Körperspannung zur Seite. Der "Stier" läuft an ihm vorbei, dreht sich um und versucht es erneut. Dass die Schüler Jogginganzüge anstatt der traditionellen Torero-Monturen tragen, scheinen sie in diesen Augenblicken zu vergessen.

Kurse am Nachmittag

Einer der Jüngsten unter ihnen ist der elfjährige Alfonso. Er ist seit vier Monaten Torero-Schüler und hat seinen Vater Marco zum Training mitgebracht. Der Stierkampf hat bei ihnen Familientradition. Marcos Ortiz ist Bandillero, also derjenige, der beim Stierkampf noch vor dem Torero die Arena betritt und dem Tier Holzstäbe mit Metallwiderhaken in den Rücken stößt.

"Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn", sagt er, "und mache mir auch keine Sorgen um ihn wegen seines Traumes, Torero zu werden. Jeder Beruf hat seine Gefahren." Alfonso präsentiert stolz sein rotes Tuch und seinen Degen. "Ich wusste schon mit zehn Jahren, dass ich hierhin will, war damals aber noch zu jung. Jetzt freue ich mich jedes Mal, wenn ich hier meine Freunde treffe und Dinge über den Stierkampf lerne."

Die Stierkampfschule trägt den Namen des berühmten Toreros Marcial Lalanda und wurde 1981 in der spanischen Hauptstadt eröffnet. Zurzeit werden 63 Schüler hier ausgebildet – als Zusatzausbildung nachmittags, wie Torero-Lehrer Joaquin Bernardó Bartomeo betont. "Uns ist sehr wichtig, dass die Jugendlichen keine schlechten Noten nach Hause bringen, die schulische Ausbildung hat Vorrang." Der 75-Jährige war selbst 30 Jahre lang Torero, seine Erfahrungen sollen den Schülern von heute helfen. "Nur wer körperlich und geistig topfit ist, kann sich in der Arena einem Stier stellen", sagt er.

Steuergelder für den Kämpfernachwuchs

Zwar bezeichnen sich heutzutage nur noch ein Drittel der Spanier als Stierkampffans, darunter besonders wenige Frauen und junge Menschen, aber als Kultur und nationale Tradition gehören die "corridas de toros", wie sie auf Spanisch heißen, noch immer fest zu dem südeuropäischen Land. In Gebieten, in denen sie nie große Tradition waren, gibt es kaum Arenen. In manchen Regionen sind sie sogar verboten, so auf den Kanaren oder seit Neuestem in Katalonien.

Madrid mit der berühmten Arena Las Ventas gehört nicht dazu. Die Stierkampfschule Marcial Lalanda wird jährlich mit jeweils 80.000 Euro von der Stadt und der Autonomen Region Madrid subventioniert. Für die Schüler ist, abgesehen von einem symbolischen Monatsbeitrag von fünf Euro, die Ausbildung kostenlos. Trotzdem halten sich die Anmeldezahlen in Grenzen. Mit den 63 Schülern in diesem Jahr bleibt die Schule weit unter ihrer maximalen Kapazität: Bis zu 200 Jugendliche könnten hier ausgebildet werden, genügend Anmeldungen vorausgesetzt.

Der ehemalige Traumberuf des Stierkämpfers ist heutzutage weniger attraktiv als der des Fußballprofis oder Popstars. Die fast kostenlose Ausbildung zum Stierkämpfer an einer der renommiertesten Torero-Schulen des Landes lockt auch in Spaniens Krisenzeiten nicht mehr viele Jugendliche an. Eine berufliche Karriere in den Arenen des Landes ist sowieso kaum planbar. "Von den 250 Toreros in Spanien sind vielleicht 15 oder 20 so gut im Geschäft, dass sie allein vom Stierkampf leben können", sagt Torero-Lehrer Joaquin Bernardó Bartomeo.

"Respektvoller Umgang" mit tödlichem Stich

In der Halle mit den Nachwuchs-Stierkämpfern ist es leise geworden. Die Jugendlichen reden nicht mehr viel, sie konzentrieren sich auf ihr Training. In einer Hallenecke mit älteren Schülern hat einer der beiden seine Hörner aus der Hand gelegt und stattdessen einen "carretón", eine Art Schubkarre mit Plastikstierkopf, auf sein Gegenüber gerichtet.

Als er auf ihn zuläuft, weicht dieser den spitzen Hörnern des künstlichen Tieres aus und stößt seinen Degen in einen mit Leder bespannten Hohlraum im Nacken der Attrappe. Am Ende eines echten Stierkampfes wäre genau dies die Stelle, an der der Torero das Tier treffen muss, um es mit nur einem Stich zu töten.

Als angehende Tierquäler sehen sich die Jugendlichen dabei nicht. Ihnen werde der respektvolle Umgang mit den Kampfstieren beigebracht, versichern sie. Etwaige Skrupel beim töten zum Sport sind hier in der Halle schlicht kein Thema.

Felipe Díaz Murillo ist seit ihrer Gründung ehrenamtlicher Direktor der Schule. Zur Tierschutzdebatte, die gerade junge Spanier gegen die "corridas de toros" aufbringt, hat er eine eindeutige Meinung: "Ich halte die ganze Diskussion über die Rechte der Tiere für heuchlerisch", so der 66 Jahre alte Schulleiter.

"Viele Kritiker des Stierkampfes haben einfach keine Ahnung von dem Leben, das die Stiere führen: Ein Kampfstier hat vier Jahre lang ein unglaublich tolles Leben in absoluter Freiheit. Am Ende wird er eine halbe Stunde lang in der Arena getötet, das stimmt. Aber Milchkühe oder Schlachtvieh leben ihr gesamtes Dasein lang eingezwercht und werden mit Hormonen vollgepumpt, damit sie schneller wachsen oder mehr Milch geben."

Für ihn steht fest: Den Stierkampf kritisieren, aber gleichzeitig Fleisch und Milch konsumieren - "das ist scheinheilig. Wenn wir Tieren dieselben Rechte wie uns Menschen zugestehen und wir alle Veganer sind, dann können wir über die Abschaffung des Stierkampfes diskutieren." Den Respekt dem Tier gegenüber sehe man auch am Publikum in den Arenen. "Wir schätzen den Stier wert. Niemand will, dass er übermäßig leidet. Ein schlechter Torero, der den Leidensprozess des Stieres verlängert, wird ausgebuht", so der pensionierte Anwalt.

Der Wunsch, einer Elite anzugehören

Die meisten der anwesenden Schüler müssen noch eine ganze Weile warten, bis sie einem echten Stier gegenüberstehen werden. Die Ausbildung an der Escuela de Tauromaquia dauert normalerweise vier Jahre und ist in drei Gruppen unterteilt. In der Halle trainieren sie alle gemeinsam.

Die Schüler in der ersten Gruppe wissen noch nichts oder sehr wenig über den Stierkampf. Ihnen werden die Grundtechniken, die Utensilien und die Abläufe erklärt. In der zweiten Gruppe treffen die Nachwuchs-Toreros dann immerhin schon auf Kühe – gegen männliche Tiere kämpfen sie hier noch nicht.

Die Kühe haben kleine Hörner, auf die zum Schutz Bälle gesteckt werden. Trotzdem ist das Ganze nicht ungefährlich, auch hier kann es schon zu Gehirnerschütterungen und anderen Verletzungen kommen. In der letzten Gruppe kämpfen die Jugendlichen schließlich gegen männliche Kampfstiere. Die Tiere in den echten Stierkampfarenen in Spanien sind vier Jahre alt, die Nachwuchs-Toreros treten gegen jüngere Tiere an. Der Kampf gegen einen drei Jahre alten Stier ist dann die Abschlussprüfung.

Einer, der diese Ausbildung absolviert hat und noch heute oft in der Torero-Schule mit seinen ehemaligen Lehrern trainiert, ist Alberto Juan Escobar. Der 23-Jährige gehört zu den wenigen Toreros, die von den Stierkämpfen leben. Für die Jugendlichen an der Escuela de Tauromaquia Marcial Lalanda ist er die lebende Bestätigung, dass ihr Traum Wirklichkeit werden kann. Sein Alltag sind die großen und kleinen Arenen des Landes, und seine Familie sei sehr stolz auf ihn, erzählt Alberto Juan Escobar. Nur seine Mutter mache sich viele Sorgen um die Gesundheit ihres Sohnes: "Sie guckt sich meine Stierkämpfe nie an und ist jedes Mal furchtbar ängstlich, wenn ich in die Arena aufbreche."


Simon P. Balzert lebt, studiert und arbeitet seit 2009 in Madrid.