Die evangelischen Landeskirchen haben keine einheitliche Positionen zur theologischen Bewertung von Homosexualität. In einigen Gemeinde leben Pfarrer oder Pfarrerinnen in eingetragener Lebenspartnerschaft gemeinsam im Pfarrhaus, es gibt aber auch konservative Gemeinden, in denen gelebte Homosexualität als Sünde verstanden wird. Welche Erfahrungen machen schwule oder lesbische Christen, die sich in konservativen Gemeinden zu ihrer Homosexualität bekennen?
Michael Seufer: Die meisten homosexuellen Christen, mit denen ich in den letzten drei Jahren über dieses Thema gesprochen habe, haben eher negative Erfahrungen gemacht. Häufig, dies gilt besonders für freikirchliche Gemeinden oder konservative kirchennahe Vereine, wurden sie nach ihrem Coming-out mehr oder weniger direkt aufgefordert, ihre Mitarbeit ruhen zu lassen. Vielen Betroffenen wurde gesagt, dass sie als "normale" Gemeinde- oder Vereinsmitglieder natürlich weiterhin willkommen sind. Aber anfühlen tut sich das wohl in vielen Fällen ganz anders. Gerade kirchliche engagierte Mitarbeitende zahlen in solchen konservativen Gemeinden einen hohen Preis für ihr Coming-out – sie finden sich auf einmal am Rande ihrer Gemeinde wieder.
Anlässlich des Papstbesuches haben Schwulen- und Lesben-Verbände die anhaltende Diskriminierung Homosexueller in der katholischen Kirche beklagt. Wie sieht die Realität in evangelischen Gemeinden vor Ort aus?
Michael Seufer: Diese Frage kann ich natürlich nur aus meiner kleinen Perspektive beantworten. Ich bin zwar mit vielen Menschen im Gespräch und versuche auch, die unterschiedlichsten Publikationen regelmäßig zu verfolgen, aber das ist ja ein weites Thema. Und die evangelische Kirche ist ja bekannt für ihre Buntheit. Aber es ist schon mein Eindruck, dass positive Signale überwiegen. Dass viele Pastorinnen und Pastoren sehr offen sind. Dass die Lebensentwürfe inzwischen so vielfältig sind, dass es auch sonst keine einfachen Regeln mehr gibt.
Und Türen gehen immer da auf, wo das Thema plötzlich konkret wird. Ein sympathisches lesbisches Paar mit einem ganz normalen Baby – da fällt es schwer, eine ablehnende Position einfach beizubehalten. Als Familientherapeut erlebe ich ja schon lange, dass die klassische Kleinfamilie als Standard immer seltener wird. Abgesehen davon, dass sie streng genommen ja auch nicht "biblisch" ist. Vielfalt wird die Regel. Das alles macht mir Hoffnung auf Veränderung.
Was raten Sie homosexuellen Christen, die sich outen und deshalb in ihren Gemeinden Ablehnung erfahren? Lohnt es, sich auf theologische Diskussionen einzulassen und für seine Rechte in der Gemeinde zu kämpfen?
Michael Seufer: Sich zu outen ist keine Kleinigkeit. Das ist ein Einschnitt im Leben und danach ist vieles anders. Und manches unumkehrbar. Das Outing ist ja meistens ein Prozess, der erstmal tief innen abläuft. Ohne dass es jemand merkt. Wer bin ich? Warum ausgerechnet ich? Und irgendwann kommt die Frage: wie will ich leben?
Ich wünsche jedem, der vor dem Coming-out steht, dass er Menschen hat, auf die er sich verlassen kann. Freundinnen und Freunde die zum ihm stehen, egal was kommt. Das Coming-out schafft dann Klarheit. Es öffnet für den Betroffenen Türen, stärkt die Identität. Die Reaktion "der Gemeinde" ist oft belastend, manchmal reagieren einzelne Mitchristen aber auch überraschend positiv.
Ich glaube, dass es sich letzten Endes nicht lohnt, sich auf theologische Diskussionen oder Streitereien einzulassen. Sich immer wieder zu rechtfertigen, macht einen mürbe. Zumal bei diesem existenziellen Thema. Nach meinem Eindruck bringt es mehr, einfach klar seinen Weg zu gehen. Wenn es irgendwie geht, positiv zu bleiben und zu handeln. Aber mir ist bewusst, dass das von außen einfach gesagt ist.
Was bedeutet es für den eigenen Glauben, wenn Christen in ihrer Gemeinde aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgegrenzt werden? Wer die Gemeinde als den Ort verliert, wo man seinen Glauben leben kann, wirft man dann auch den Glauben selbst über Bord?
Michael Seufer: Manchmal ja. Erstmal. Leider. Vor allem dann, wenn der Kindheitsglaube derselbe war, der in der Gemeinde gelebt und gelehrt wird. Es sind ja auch die verinnerlichten Stimmen, die sagen: "Gott will Dich so nicht!". Wenn das alles nur eine Diskussion von außen wäre, wäre es einfacher. Ja, und wenn dann in der Kirchengemeinde oder christlichen Gemeinschaft kaum jemand mitgeht, innerlich mitgeht, dann geht oft die Heimat verloren. Ich frage schon: Wo sind die Christen, die Lesben und Schwule zum Essen einladen? Auch als Paar? Die sich die Lebensgeschichten wirklich einmal anhören?
Was mich übrigens bei vielen Gesprächen bei der Initiative "zwischenraum" immer wieder berührt: Menschen finden dort nach Jahren der Gemeindeferne plötzlich einen Ort, wo beides wieder passt: ich bin als Homosexueller willkommen. Und ich bin in einer christlichen Gemeinschaft. Mit allem, was meinen Glauben einmal ausgemacht hat. Es ist wie ein Heimkommen für manche. Wie eine Befreiung. Coming home.
Kennen Sie auch positive Beispiele, wo ein Outing in der Gemeinde fruchtbare Diskussionsprozesse ausgelöst hat?
Was Gemeinden als ganze angeht, kenne ich bisher leider nur unfruchtbare Beispiele. Aber ich würde mir wünschen, dass die Diskussion auf evangelisch.de auch positive Berichte zutage bringt. Ich ermutige jeden, der in seiner Gemeinde positive Erfahrungen gemacht hat, sich an unserer Diskussion zu beteiligen. Wir brauchen sie, die guten Nachrichten.
In Amerika gibt es Gemeinden, die sich als "offene und akzeptierende" Gemeinden bezeichnen und schwule und lesbische Christen bewusst willkommen heißen – wäre das auch eine Lösung für Deutschland?
Michael Seufer: Ja, in den USA gibt es solche"welcoming churches", also Kirchen, die definitiv sagen, dass Lesben und Schwule willkommen sind. In der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika gibt es sogar eine Initiative, die bietet Gemeinden und Kirchenvorständen Hilfestellungen und Material, um sich mit diesem Thema zu beschäftigen und Entscheidungen zu treffen.
Einerseits wäre das in Deutschland vielleicht auch gut. Andererseits bin ich froh, dass bei uns schon mal grundsätzlich ein positiverer Ton herrscht.
Wir sollten dieses Thema auch nicht zu einem Bekenntnisfall machen. Die Alt-Katholische Kirche hat da übrigens ein kurzes Statement –es lohnt sich, das mal zu lesen. Sind nur zwei Sätze. Manchmal ist weniger mehr: "Die Synode stellt fest, dass in vielen unserer Gemeinden gleichgeschlechtlich liebende Frauen und Männer integriert sind. Die Synode bittet die Gemeinden, sich um ein Klima der Akzeptanz, der Offenheit und Toleranz gegenüber homosexuell liebenden und lebenden Menschen weiterhin zu bemühen."
Was halten Sie von Gemeinden, die sich hauptsächlich als Gemeinde für Schwule und Lesben verstehen? Wenn sich homosexuelle Christen in eigenen Gemeinde sammeln, verliert dann die Kirche nicht, wenn es Personalgemeinden für Singles, für Familien, für Schwule und Lesben, für Jugendliche oder für Alte gibt?
Michael Seufer: Die homosexuellen Christen, die ich kenne, unterscheiden sich im Wesentlichen nicht von mir, was ihren Glauben und ihre Werte angeht. Und wenn ich jetzt sage, sie wollen einfach nur dazu gehören, dann ist das zu wenig. Sie gehören dazu! Wir brauchen sie. Wir brauchen ihre Sicht der Welt, wir brauchen ihre Fähigkeit, anders zu denken, wir brauchen ihre Begabungen. Eine Homosexuellenkirche kann vielleicht für einzelne ein Ort des Überlebens sein, aber das Ziel ist das meiner Meinung nach nicht. Ob man den bunten Haufen anschaut, der mit Jesus durch das Land zog, oder ob man die Gemeinden im Neuen Testament untersucht: alle sind willkommen. Wir müssen die Spannungen aushalten. Dadurch sind wir auch ein Vorbild für unsere Welt. Reden ist wichtig, aber an der Liebe entscheidet es sich.
In unserem "Thema des Monats" ist Gelegenheit, sich über den Umgang mit lesbischen und schwulen Christen in christlichen Gemeinden auszutauschen. Michael Seufer diskutiert mit.
Michael Seufer ist Diakon und Sozialarbeiter und betreibt eine eigene Beratungspraxis in Oy-Mittelberg im Allgäu.