Niemand kann den Erfolg eines Films besser unterminieren als der Regisseur selbst. Dafür hat Lars von Trier mit seinem unglücklichen Auftritt in Cannes einmal mehr den Beweis geliefert. Im Vorfeld noch war "Melancholia" als heißer Favorit gehandelt worden. Die Reaktionen bei der ersten Vorführung waren enthusiastisch. Und dann kam die Pressekonferenz, die "Ok, I’m a Nazi"-Schlagzeile – und für den Rest des Festivals redete zwar alles über Lars von Trier, aber niemand mehr über seinen Film. Kirsten Dunst bekam immerhin den Darstellerinnenpreis, doch was ein großer Triumph hätte sein können, wirkte wie ein Trostpflaster. Dabei hat Lars von Trier mit "Melancholia" seinen bislang schönsten Film gedreht.
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Schön ist der Film zunächst in ganz direktem Sinn: Auf visuell ansprechende Weise geht hier die Welt unter. Kurz vor seiner Kollision mit der Erde wirft ein riesiger Komet am Horizont surreales Licht auf das aristokratisch wirkende Herrenhaus und sein umgebendes Anwesen, wo die letzten Szenen des Films spielen. Doch es ist nicht die äußerliche Katastrophe, die Lars von Trier interessiert, sondern die Gefühlslagen, in der sie die Menschen trifft. So gibt es auch keine Bilder der Verwüstung oder Zerstörung. Der Film beginnt mit einer regelrechten Ouvertüre: Zu Wagners "Tristan und Isolde" zeigt er surreale Szenen, die Kunstgeschichte mit digitalen Hochglanzeffekten kombinieren: Kirsten Dunst, die im Brautkleid in einem Teich treibt; Charlotte Gainsbourg, die mit einem kleinen Jungen auf dem Arm in Zeitlupe über einen Golfplatz rennt und dabei knietief im Rasen versinkt; vom Himmel fallende weiße Vögel; schwarze stürzende Pferde. Verstörend und faszinierend zugleich.
Stunde der Depressiven
In zwei Kapitel unterteilt, erzählt der Film von zwei sehr verschiedenen Schwestern. Zuerst geht es um Justine (Kirsten Dunst), die wir zunächst als strahlende Braut kennenlernen. Doch die Hochzeitsfeier gerät zum Desaster und nach und nach offenbart sich das Bild einer zutiefst unglücklichen Familie. Da ist die stets sehr ernste Schwester Claire (Charlotte Gainsbourg), die ihr Leben bestens im Griff zu haben scheint, an der Seite ihres reichen Gatten John (Kiefer Sutherland, wunderbar nuanciert zwischen maulendem Spießer und empfindsamem Verantwortungsträger). Und da sind die längst geschiedenen Brauteltern (John Hurt und Charlotte Rampling), die sich an Rücksichtslosigkeit gegenüber ihren Töchtern gegenseitig überbieten.
Am Ende der Nacht versinkt Justine in eine tiefe Depression und fühlt sich von allen – außer ihrer Schwester und deren Mann – verlassen. Die starke Stunde der Depressiven aber kommt, wenn ihre schlimmsten Befürchtungen eintreffen. Das zweite Filmkapitel zeigt die innere Erosion der eben noch so gefassten Claire. Der sich der Erde nähernde Planet versetzt sie in Panik. Ihr Mann versucht, sie mit Wissenschaft zu beruhigen, kauft aber selbst heimlich Vorräte für den Tag X. Während Claire immer ängstlicher wird, findet Justine dagegen zu einer trancehaften Ruhe und Souveränität.
Gefilmt in meisterhafter Integration von spektakulären Spezialeffekten und Handkameraintimität ist die Stimmung flirrend, voller unguter Spannungen und ungelöster Probleme von Einsamkeit, Verbitterung und Hassgefühlen. Spürbar sind auch Relikte von Bourgeoisiekritik, die gern anführte, wie Reichtum und Überfluss immer wieder Depression und Wahnsinn hervorbringen. Andererseits aber zeigt von Trier hier eine seltene Sympathie mit seinen fehlerbehafteten Figuren, allen voran Dunsts Justine. Frei von Besserwisserattitüde liefert "Melancholia" eine Reflektion über die relativierende und zugleich revolutionierende Kraft des Weltuntergangs.
DK/S/F/D 2011. R, B: Lars von Trier. Mit: Kirsten Dunst, Charlotte Gainsbourg, Kiefer Sutherland, Charlotte Rampling, John Hurt, Alexander Skarsgard, Udo Kier. L: 130 Min. FBW: besonders wertvoll.