Von Merkels Milliarden, Macht und Mehrheit
Viele Wochen wurde um den Euro-Rettungsschirm gerungen und gestritten. Die schwarz-gelbe Koalition sah sich phasenweise am Abgrund. Diesen hat sie nun übersprungen. Der Vormittag im Parlament.
29.09.2011
Von Kristina Dunz

Für drei Minuten herrscht Ratlosigkeit. Der Stuhl mit der höchsten Lehne auf der Regierungsbank bleibt leer, als Bundestagspräsident Norbert Lammert am Donnerstag um 09.00 Uhr die bisher wichtigste Sitzung in dieser Wahlperiode eröffnet. Der Bundestag stimmt über den ausgeweiteten Euro-Rettungsschirm EFSF ab und damit auch über die Stabilität der Regierung. Es geht um ein Milliarden-Paket, das vielen Bürgern Angst macht, und es geht darum, ob die oft so zerstrittene schwarz-gelbe Koalition eine eigene Mehrheit bekommt. Und ausgerechnet der Mensch mit der größten Verantwortung ist nicht da: Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU).

Vize-Kanzler Philipp Rösler zuckt mit den Achseln. Irritierte Blicke kreuzen sich. Dann, um 09.03 Uhr kommt die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende zu ihrem Platz. Ein aufregender Tag beginnt.

Der für sie wohl gefährlichste Redner ist ein Mann, der nach dem Wechsel von Schwarz-Rot zu Schwarz-Gelb 2009 von der Front in den Hintergrund gerückt ist und an diesem Tag wieder in der ersten Reihe sitzt: Merkels früherer Finanzminister Peer Steinbrück, SPD. Mit ihm meisterte sie 2008 die erste Finanzkrise vergleichsweise schnell - auch mit dem Versprechen, die deutschen Sparbücher seien sicher.

Merkel kennt die Nein-Sager schon seit gestern Abend

Steinbrück tritt um 09.18 Uhr für 23 Minuten ans Rednerpult, nachdem Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) - als wüsste er schon mehr - gesagt hat: "Wir werden eine breite Mehrheit haben in unserer Koalition. Wir werden zeigen, dass diese Koalition handlungsfähig ist. Wir werden zeigen, dass Deutschland in guter Hand ist."

Merkel steht während Steinbrücks Rede erst einmal auf und geht zu FDP-Fraktionschef Rainer Brüderle, sie simst und plaudert mit ihrem Sitznachbarn Rösler. Sie wirkt geradezu heiter. Bis zum Vorabend mussten sich alle Nein-Sager in der Unionsfraktion zu erkennen geben. Merkel dürfte zu diesem Zeitpunkt recht gut wissen, wie es um ihre Kanzlermehrheit mit den Stimmen aus den eigenen Reihen steht.

Wie später bei den persönlichen Erklärungen der schärfsten EFSF-Kritiker Klaus-Peter Willsch (CDU) und Frank Schäffler (FDP) lacht Merkel oft und tut viel, um Steinbrück möglichst wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Da die Kanzlerin bekanntermaßen vieles gleichzeitig kann, wird sie aber trotz ihrer Ablenkung vernommen haben, was Steinbrück ihr vorwirft. Es ist das, was sie auch aus eigenen Reihen zu hören bekommt. Eine empfindliche Kritik, die sie treffen dürfte, weil sie ihr Einsatz und Emotion für Europa abspricht und infrage stellt, dass sie das Erbe Helmut Kohls gut verwaltet.

Steinbrück beschwört die Freiheit in Europa

Steinbrück spannt den Bogen vom Kriegsende 1945 über den Kalten Krieg und die Wiedervereinigung bis zur jetzigen Schuldenkrise in Europa. Er beschwört die Errungenschaften der Europäischen Union: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Wohlstand, Frieden. "Europa ist Freiheit (...), dass niemand Angst haben muss, dass jemand nachts an der Tür klingelt und einen herausholt."

Die Kanzlerin habe den Deutschen diesen Hintergrund nicht vor Augen geführt, sie habe nicht erklärt, warum gerade Deutschland gezwungen sei, einen gewichtigen Beitrag zur Stabilisierung des Euro zu leisten. Sie habe kein Vertrauen geschaffen in einer Zeit, da Ideale der Demokratie erschüttert würden und die Politik angesichts der Finanzkrise in eine Legitimationskrise komme. Stattdessen habe sie laviert und manchmal deutschtümelnde Volkslieder gesungen. Sie habe das auch gemacht, um ihre zerrissene Union zu befrieden.

Steinbrück sagt, eine Regierung müsse der eigenen Bevölkerung sagen, dass an einem Schuldenschnitt für Griechenland kein Weg vorbei gehe und dass in der Euro-Zone natürlich eine Haftungsgemeinschaft nötig sei. Das zeige auch der EFSF, in dessen Rahmen Deutschland mit 211 Milliarden Euro bürgt. Die SPD stimme aus übergeordneter Verantwortung für das EFSF-Gesetz, sagt Steinbrück staatstragend.

Brüderle macht sich über Steinbrück lustig

Eine Bewerbungsrede als Kanzlerkandidat wird darin noch nicht gesehen. Dafür habe er sich zu sehr zurückgehalten, heißt es später. Das Rennen zwischen ihm, SPD-Chef Sigmar Gabriel sowie Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier ist weiter offen. Brüderle macht sich lustig: "Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der schönste Sozi im ganzen Land?"

Auch Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin betont die Regierungsfähigkeit seiner Partei: Dass sich Europa auf Deutschland verlassen könne, liege auch an einer verlässlichen und verantwortungsbewussten Opposition. Bei Rot-Grün kommt FDP-Mann Brüderle kräftig in Wallung. SPD und Grünen seien «in Worten hart und in Taten weich». Schließlich hätten sie in ihrer Regierungszeit gegen die Stabilitätskriterien verstoßen. Dann spricht er, nein er schreit, über Gefahren durch eine rot-grüne Regierung. Linksfraktionschef Gregor Gysi ätzt, Brüderle rechne offenbar mit Neuwahlen, denn an diesem Tag habe er den Wahlkampf eröffnet. Die Linke lehnt als einzige Fraktion den EFSF ab, weil damit ein Rettungsschirm für die Banken aufgespannt und eine unvertretbare Zocke zugelassen werde.

Steinbrück verweist noch auf den chinesischen Kalender. Danach sei 2011 das Jahr des Hasen. «Genau den Eindruck vermittelt auch die diese Regierung.» Nach chinesischem Verständnis ist der Hase allerdings ein äußerst kultiviertes Wesen und im Umgang mit Geld erstaunlich gewieft. Am Ende erreicht die Koalition aus eigener Kraft die Kanzlermehrheit. Deutlich. Merkel nimmt ihre bisher höchste Hürde. Die nächsten sind schon aufgebaut: Die weitere Griechenlandhilfe und der EFSF-Nachfolge-Rettungsschirm ESM.
 

dpa