Eltern oder Lehrer: Wer erzieht muslimische Kinder?
Muslimische Kinder und Jugendliche in Deutschland sitzen zwischen allen Stühlen. Ihre Eltern und ihre Lehrer haben oft völlig unterschiedliche Vorstellungen von Erziehung und Schule. Eine neue Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung macht die Probleme deutlich.
28.09.2011
Von Thomas Klatt

Die Bildungsexperten Ahmet Toprak und Aladin El-Mafaalini legen in ihrer aktuellen Studie im Auftrag der Konrad-Adenauer-Stiftung dar, dass viele türkische und arabische Kinder und Jugendliche in Deutschland immer noch nicht in der deutschen Gesellschaft angekommen sind - zumindest jene, die man gemeinhin zur Unterschicht zählt und die kein höheres Bildungsniveau anstreben. Nur dürfe man diese Jugendlichen nicht sich selbst überlassen, sondern ihnen müsse gerade eine milieugerechte Pädagogik entgegengebracht werden, fordern sie.

Der Bochumer Sozialwissenschaftler Aladin El-Mafaalini weiß, dass vielen Familien aus muslimisch geprägten Ländern das deutsche Bildungssystem unverständlich ist. Traditionell sei die Schule für viele dieser Eltern ein Lebensbereich, für den sie sich nicht verantwortlich fühlten. "Die Eltern halten sich aus der schulischen Lernentwicklung der Kinder vollständig heraus. Es wird nicht beobachtet, ob das Kind in der Schule klar kommt oder ob es sich auffällig verhält. Man ist in der Türkei, aber auch in arabischen Ländern gewohnt, dass der Lehrer eine sehr hohe Autorität besitzt und die Erziehungsberechtigung während der Schulzeit an den Lehrer übergeht", erklärt El-Mafaalini.

Wer erzieht - Eltern oder Lehrer?

Nach dem tradierten Verständnis der alten Heimat übernähmen letztlich die Lehrer die Erziehungs- und damit tagsüber die Elternaufgaben. Diese Einstellung widerspricht aber dem deutschen Bildungssystem, das auf eine hohe Eigenverantwortlichkeit der Schüler und die Erziehungsverantwortung der Eltern setzt. Dies sei ein pädagogischer Teufelskreislauf. Die Lehrer deuteten das Elternverhalten vieler Muslime als Desinteresse, weil diese sich etwa nicht an Elternabenden beteiligten. 

Die Eltern wiederum empfänden die deutschen Lehrkräfte als inkompetent, da diese ihre Kinder nicht erziehen wollen und sich bei Defiziten an die Eltern wenden. Oftmals herrsche damit ein völliges Unwissen über das bundesdeutsche Bildungssystem und daraus resultierend Rat- und Sprachlosigkeit auf beiden Seiten. "Eine Lehrkraft aus der Türkei oder Syrien, wo ich herkomme, würde sich niemals an die Eltern wenden, die löst Probleme in der Schule selbst. Der Lernerfolg bleibt bei den eigenen Kindern aus und das führt dazu, dass diese Eltern noch konservativer und noch autoritärer werden", erklärt der ehemalige Berufsschullehrer Aladin El-Mafaalini.

Konservative verweigern sich der modernen Pädagogik

Im Ergebnis sitzen die Kinder und Jugendlichen zwischen den kulturellen Stühlen. Einerseits verlangt die deutsche Schule nach eigenständigem kritischem Denken, andererseits pochen die Elternhäuser auf die Einhaltung tradierter, durchaus muslimisch geprägter Werte. "In konservativ geprägten muslimischen Familien werden Erziehungsziele bevorzugt, die im Widerspruch zu deutschen Schulen stehen. Viele türkisch- und arabischstämmige Eltern betonen, dass man loyal gegenüber den Eltern sein soll. Es zählen Gemeinschaft, Anstand, Ehrenhaftigkeit. Die eigene Meinung wird in der Regel der Meinung der Eltern untergeordnet", weiß Ahmet Toprak, Professor für Erziehungswissenschaften an der Dortmunder Fachhochschule.

Der Zusammenhalt der Familie habe höchste Priorität. Binnenhäusliche Probleme dürfen unter keinen Umständen nach außen dringen. Daher rühre auch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber den deutschen Institutionen wie etwa Schul- oder Jugendämtern. Toprak schätzt, dass ein Drittel der rund vier Millionen Muslime in Deutschland zu jenen religiös-konservativen Milieus zählt, die sich einer modern-aufgeklärten Pädagogik verweigern. In nicht wenigen Familien sei zudem Gewalt selbstverständlich. 

Islam zwar unbekannt, aber idealisiert

"Es gibt auch deutsche Eltern, die ihr Kind schlagen. Diese reden aber nicht darüber. Türkeistämmige Eltern, die ihre Kinder schlagen, sagen, das habe ich gemacht, weil es so sein muss. Ohrfeigen gehören bei vielen zum Alltag und das führt dazu, dass die Jugendlichen das auf ihren Alltag übertragen", weiß der ehemalige Sozialarbeiter Ahmet Toprak aus langjähriger Berufserfahrung.

Zudem brächten viele muslimische Jugendliche wenig Frustrationstoleranz auf und verstünden sich gerne als Sonder- und Opfergruppe gegenüber der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Viele definierten sich als in der westlichen Welt unterdrückte Muslime, ohne jedoch unbedingt grundlegende Kenntnisse über den Koran oder das Leben des Religionsstifters Mohammed zu besitzen. Der Islam werde – etwa ausgehend von diversen Internetquellen - als eine Art Identifikationsgröße konstruiert und idealisiert.

Hinzu komme eine gewisse Anfälligkeit für antisemitisches oder rassistisches Gedankengut, das via Satelliten-TV den Weg auch in muslimische Haushalte in Deutschland finde. Judenfeindschaft bei türkischen und arabischen Jugendlichen sei drei Mal so hoch wie bei deutschen Jugendlichen, schreibt Toprak. Auch die eigene Ethnie werde oftmals idealisiert. Jugendliche definierten sich etwa gerne als Türken und damit als etwas "Besseres" gegenüber den Deutschen, ohne die türkische Heimat der Eltern wirklich zu kennen.

Freunde werden bedingungslos verteidigt

Mangelnde sprachliche Kompetenz führe häufig zu gewalttätigen Konfliktlösungs-Mechanismen. Es gelte die Überbetonung traditioneller Männlichkeitsbilder. Nach wie vor werde in religiös-konservativen Milieus die Verteidigung der "Ehre" auch mit Gewalt befürwortet. Anders als für viele deutsche Jugendliche erscheint der Rückhalt in der Gruppe dabei als überlebenswichtig.

"Arabisch- und türkeistämmige Jugendliche, die aus prekären Situationen kommen, haben ein anderes Verständnis von Freundschaft, dass sie Loyalität erwarten, dass sie bedingungslos für ihre Freunde einstehen möchten, auch handgreiflich werden, um ihre Freunde zu verteidigen. Bedingungslose Loyalität gegenüber dem Freund ist das oberste Prinzip. Das passt natürlich nicht zur Schule, wo man auch gegenüber den Freunden kritisch sein soll", erklärt Toprak.

Der Pädagoge empfiehlt daher den Lehrkräften, intensiv das Gespräch nicht nur mit den Eltern, sondern vor allem mit den auffälligen muslimischen Jugendlichen zu suchen. Gemeinsam solle man über Lösungen des permanenten Rollenkonfliktes nachdenken. Toprak nennt das konfrontative Pädagogik: "Das bedeutet, dass Kinder und Jugendliche mit ihrem Fehlverhalten direkt konfrontiert werden, aber die Person wertgeschätzt wird. Konfrontation bedeutet, Du bist mir wichtig, ich will dich nicht verlieren." Ein pädagogischer Ansatz, der grundsätzlich auch für nicht-muslimische Schüler sinnvoll ist.


Thomas Klatt arbeitet als freier Journalist in Berlin.