"Fraktionszwang", das klingt ja schon unangenehm. Und das wollen die Leute eher nicht. Es gibt allerdings auch keinen Fraktionszwang in Deutschland, rechtlich schon gar nicht. Im Gegenteil: Das Grundgesetz sagt in Artikel 38, Absatz 1, Satz 2: "Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages (…) sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen."
Meinungsvielfalt gegen Verlässlichkeit
Auf der anderen Seite haben wir natürlich so etwas wie Fraktionssolidarität und Loyalität. Und die ist leider oft viel zu schwach ausgeprägt. Es ist ja auch sehr verlockend, durch das Artikulieren einer anderen Meinung als die oft in langen Diskussionen gebildete gemeinsame Position der Fraktion in die Schlagzeilen und in die bundesweiten Nachrichten zu kommen.
Das Ergebnis ist zwar ein meist zutreffendes Bild unterschiedlicher Positionen in einer Partei oder Fraktion, das sorgt aber gleich für eine gewisse Verunsicherung. Der daraus resultierende Vorwurf: Es gibt keine Verlässlichkeit der Politik. Das wollen die Leute auch nicht.
Ein zugrunde liegendes Missverständnis ist ja schon, eine Partei als monolithischen Block mit festgefügter Meinung zu sehen. Tatsächlich ist eine Partei aber ein sich ständig weiterentwickelnder Organismus, dessen Entscheidungen von zahlreichen Individuen mit eigenem Kopf geprägt werden.
Natürlich kommen da hoffentlich Menschen zusammen, die eine gewisse Grundhaltung verbindet. Das schränkt die Breite des Meinungsspektrums in Einzelfragen der Tagespolitik aber erfahrungsgemäß nur wenig ein. Am Rande bemerkt: Entsprechend unsinnig ist die oft gehörte "Entschuldigung", man wolle nicht einer Partei beitreten, weil man sich nicht auf alle Positionen der Partei festgelegt sehen wolle. Die Meinungsvielfalt ist gewöhnlich trotz aller beschlossener Programmatik groß und lässt viel Raum.
Parteibeschlüsse sind nicht bindend
Bei Wahlen werden Programme beschlossen und Kandidaten aufgestellt, von denen man denkt, dass sie das auch irgendwie vertreten können. Denn genau das erwarten die Bürgerinnen und Bürger ja auch und sehen darin einen wichtigen Aspekt politischer Verlässlichkeit. Tatsächlich sichergestellt wäre das jedoch nur, wenn es nicht nur einen Fraktionszwang, sondern auch noch ein imperatives Mandat gäbe.
Das ist aber nicht die Realität unseres Grundgesetzes. Gewählte Abgeordnete sind nicht verpflichtet, Parteibeschlüsse nach dem Prinzip des "imperativen Mandats" zu befolgen, und auch die Fraktion kann ein Abstimmungsverhalten nicht erzwingen. Der Abgeordnete ist seinem Gewissen verpflichtet. Bei einigen ethisch besonders brisanten Fragen wird das besonders deutlich, indem die Fraktionen von vorneherein darauf verzichten, eine Position zu bestimmen.
Jüngst war das bei PID der Fall: Da hatte der CDU-Bundesparteitag zwar nach langer Diskussion ein Verbot beschlossen, aber namhafte Mitglieder der Fraktion waren dennoch die aktivsten Befürworter, und es gab keinen Gesetzentwurf der Fraktion.
Im Normalfall wird natürlich versucht, Verlässlichkeit zu demonstrieren und sich auf eine gemeinsame Position innerhalb der Fraktion zu einigen. Wenn man wirklich gemeinsam etwas erreichen will, muss man sich dann aber schon darauf verlassen, dass auch alle einigermaßen solidarisch sind und im Parlament mitstimmen. Sonst wäre auch gegenüber der Öffentlichkeit keine Ankündigung irgendetwas wert.
Ohne Kompromisse geht es nicht
Gemeinsam zu Kompromissen kommen, ist auch im privaten Leben vernünftig. Auch in der Familie und in der eigenen Ehe muss man schon mal Dinge aus Überzeugung mittragen, bei denen man ursprünglich anderer Meinung gewesen ist. Natürlich darf nicht immer der- oder dieselbe in diese Solidarität gezwungen werden. Zu Unrecht aber wird dem Wort "Kompromiss" oft das Adjektiv "faul" zugeordnet. Tatsächlich wären ohne Kompromisse nirgends kollektive Entscheidungen und nirgends Leben in einer Gemeinschaft möglich.
Funktionsfähiges Leben in einer Gemeinschaft sowie die gewünschte Verlässlichkeit bei der Umsetzung politischer Projekte braucht Solidarität und Loyalität auch innerhalb einer Fraktion. Den vermeintlichen Fraktionszwang anzuprangern ist da eher kontraproduktiv.
Volkmar Klein, geboren 1960 in Siegen, ist seit Herbst 2009 direkt gewählter CDU-Bundestagsabgeordneter für Siegen-Wittgenstein. Aufgewachsen in Burbach, studierte Volkmar Klein nach dem Abitur Volkswirtschaft in Bonn. Nach verschiedenen beruflichen Stationen in der mittelständischen Wirtschaft gehörte Volkmar Klein seit 1995 der CDU-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen an. Zudem ist er Landesvorsitzender des Evangelischen Arbeitskreises (EAK) der CDU/CSU in Nordrhein-Westfalen. Volkmar Klein ist verheiratet und Vater von vier Kindern.