Der Friedensstifter Paul Oestreicher wird 80 Jahre alt
Grenzgänger zwischen den Fronten: Der anglikanische Kirchendiplomat, Pazifist, Pfarrer und Publizist Paul Oestreicher wird am Donnerstag 80 Jahre alt.
28.09.2011
Von Barbara Schneider

Nach dem Besuch des anglikanischen Geistlichen Paul Oestreicher bei den RAF-Gefangenen im Hochsicherheitsgefängnis Stuttgart-Stammheim geht 1974 ein Fernschreiben an die Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe. "Die Gefangenen seien ohne Ausnahme gesprächsbereit gewesen", wird der britische Friedensaktivist in dem Schriftstück zitiert, das im Bundesarchiv erhalten ist. Nicht nur während des Hungerstreiks der RAF-Inhaftierten hat Paul Oestreicher immer wieder zwischen den Fronten vermittelt. Am Donnerstag (29. September) wird der Pazifist, Pfarrer und Publizist 80 Jahre alt.

Er kommt 1931 in Meiningen (Thüringen) als Sohn eines zum Christentum konvertierten jüdischen Kinderarztes zur Welt. Auf der Flucht vor der Gestapo versteckt sich seine Familie in Berlin und flieht 1939, noch vor Kriegsausbruch, nach Neuseeland. Hilfe erhält sie vom Büro des Pfarrers und späteren Propstes Heinrich Grüber, der von den Nationalsozialisten verfolgte Christen jüdischer Herkunft unterstützt.

Frieden und Menschenrechte prägen ihn

Es sind Erfahrungen, die für Oestreichers Leben prägend sind. Nach Flucht und Vertreibung seien zwei Dinge für ihn zentral geworden, sagt er rückblickend: der Frieden und die Menschenrechte. Und so kehrt Oestreicher, der in Neuseeland Politikwissenschaften und deutsche Literatur studiert hat, im Alter von 24 Jahren nach Deutschland zurück: Bei Helmut Gollwitzer, dem Pfarrer der Bekennenden Kirche und Vertreter eines christlich begründeten humanen Sozialismus, studiert er politische Theologie.

Getauft in der lutherischen Stadtkirche in Meiningen, wächst Oestreicher in Neuseeland in der religiösen Gemeinschaft der Quäker auf. Nach seinem Theologiestudium entschließt er sich, anglikanischer Pfarrer zu werden. 1960 wird er in Großbritannien ordiniert. Die anglikanische Kirche und die Quäker sind zwei Pole in seinem Leben: die Chance über eine große Amtskirche viele Menschen zu erreichen und der radikale Pazifismus der Quäker. Unter anderem setzt sich Oestreicher für eine atomwaffenfreie Welt ein. Über die Grenzen Großbritanniens hinaus erwirbt er sich den Ruf eines unabhängigen Streitschlichters.

Im Kalten Krieg wird Oestreicher zum Grenzgänger zwischen den verfeindeten Lagern. In der DDR sucht er das Gespräch mit Funktionären ebenso wie mit Oppositionellen. Er verhandelt über die Freilassung von politischen Gefangenen, unterhält Kontakte zu den Kirchen im Osten. 1988 gelingt es ihm, die DDR-Oppositionellen Bärbel Bohley, Vera Wollenberger (heute: Vera Lengsfeld) und Werner Fischer aus der Stasi-Haft nach Großbritannien zu holen. 77 Mal, erinnert er sich, hat er zwischen 1964 und 1989 die DDR besucht. "Zwangsweise bin ich zum Diplomaten geworden", sagt er.

Das Christsein leben

In vielen Positionen hat Oestreicher sein Christsein gelebt: Er war Pfarrer in London, arbeitete vier Jahre lang beim britischen Rundfunk BBC. Später dann wurde er Osteuropareferent des Britischen Kirchenrates und Leiter des Außenamtes, er war sozusagen "Außenminister" der britischen Kirche.

Im Nebenamt engagierte Oestreicher sich zehn Jahre lang als Vorsitzender der britischen Sektion von Amnesty International. Schließlich, eine Berufung als Bischof von Wellington in Neuseeland war gerade gescheitert, wurde er 1986 als Leiter des Versöhnungszentrums der weltweiten Nagelkreuzgemeinschaft in das Domkapitel der Kathedrale von Coventry (Großbritannien) berufen.

"Geschichtsbewusst zu leben war für mich immer wesentlich, persönlich und politisch", schreibt Oestreicher in seiner Autobiografie: "Aber auch geschichtsfrei, nicht Gefangener des Erlebten, Erlittenen und Verschuldeten."

Deutschland hat ihn dabei nie losgelassen. Immer wieder zieht es ihn bis heute in sein Geburtsland zurück. Wenn auch nicht mehr beruflich, so doch privat: Vor neun Jahren hat Oestreicher seine zweite Frau, die Professorin Barbara Einhorn, in Berlin geheiratet. Seine Geburtsstadt Meiningen ehrt ihn mit einem Festakt zum 80. Geburtstag.

epd