Tristan und Isolde: Die Matrix des Eins-seins
Die Beziehungen von Kunst und Spiritualität zu erkunden – unter diesem Vorzeichen steht die aktuelle, noch bis zum 9. Oktober reichende Spielzeit der Ruhrtriennale. Nachdem sich Intendant Willy Decker in früheren Ausgaben des Festivals mit dem Judentum und dem Islam befasst hatte, steht diesmal der Buddhismus im Fokus. Ein willkommener Anlass, dieser Ambition bei der spektakulärsten Aufführung der Ruhrtriennale 2011 nachzuspüren, Wagners "Tristan und Isolde".
23.09.2011
Von Ralf Siepmann

"So wäre denn alle furchtbare Tragik des Lebens nur in dem Auseinanderliegen in Zeit und Raum zu finden: da aber Zeit und Raum nur unsre Anschauungsweisen sind, außerdem aber keine Realität haben, so müsste dem vollkommen Hellsehenden auch der höchste tragische Schmerz nur aus dem Irrtum des Individuums erklärt werden können: ich glaube, es ist so!" Dies schreibt Richard Wagner 1860 seiner Gönnerin MathildeWesendonck, in die er sich leidenschaftlich verliebt hat.

Seit den 1850er Jahren hat sich der Komponist mit dem Buddhismus befasst. Hiervon zeugen Hinweise in seiner Autobiographie "Mein Leben" sowie in den Tagebüchern seiner Frau Cosima. Prägend insbesondere die Auseinandersetzung mit Arthur Schopenhauer. Der Philosoph verstand die Verschiedenheit der Dinge als Täuschung. Raum und Zeit besäßen lediglich Geltung für die subjektive Vorstellung von der Welt. Eins und alles sei aber die Welt an sich. Wagner berauschte sich an der Idee der Aufhebung des Ich. Die Lehren von der "Einheit alles Lebenden", vom Eins-sein und der Ganzheit, von der Überwindung des Gegensatzes von Diesseits und Jenseits beseelen den Menschen, treiben den Komponisten an.

Transzendenz im Denken, in der Kunst

In jenen Jahren arbeitet Wagner an "Tristan und Isolde" – einem Stoff, der ihn über zwei Jahrzehnte beschäftigen sollte. Er dringt in eine Sphäre der Musik jenseits aller Konventionen vor. Das zweite Projekt mit dem Titel " Die Sieger" ist von einer indischen Buddhalegende inspiriert. Entsagung soll als extremer Ausdruck der Liebe dargestellt werden. Es wird nicht realisiert. Ist der 1865 in München uraufgeführte "Tristan" der Musikwelt Vorbote einer "Neuen Musik", ist er für Wagner Grenzüberschreitung und Vollendung zugleich.

Mit der schwarzen Flagge, die am Ende weht, schreibt er an Franz Liszt, "will ich dann mich zudecken – um zu sterben". Todes - und Erlösungssehnsucht fließen in einander. "Sehnsüchtig", heißt es in dem Brief an Wesendonck, "blicke ich oft nach dem Land Nirwana. Doch Nirwana wird mir schnell wieder Tristan." In dem epochalen Vorspiel zum ersten Akt gibt Wagner der Idee von der Entstehung der ganzen Welt seine ganz eigene Melodie. Transzendenz im Denken, in der Kunst.

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Bei der Ruhrtriennale ist dieser "Tristan" einer radikal anderen, weil spirituell entworfenen Sicht das Schlüsselwerk. Willy Decker hat sie in seinem dritten und letzten Jahr als Intendant und künstlerischer Leiter unter das Leitmotiv gestellt, die Verbindung von Kunst und Spiritualität auszuloten. Nach zwei Spielzeiten, die sich mit monotheistischen Religionen (Judentum, Islam) beschäftigt haben, richtet er nun den Blick auf eine Kultur mit einem vollkommen anderen Bewusstsein und gänzlich anderer religiöser Praxis. "Urmomente - Ankunft" ist das Ganze betitelt. Paradox? Allerdings, gesteht Decker, gebürtiger Kölner, zu. habe der Begriff im Buddhismus eine andere Bedeutung als im westlichen Verständnis: "Wenn ich wirklich ankomme, merke ich, dass ich immer schon da war." Es ist eine der vielen Brücken Deckers zu Wagners Musikdrama. "Ich war, wo ich von je gewesen", erkennt Tristan im dritten Akt, dem Sterben nah.

Kombination von Aufführungsidee und Aufführungsort

Was Deckers und Wolfgang Gussmanns (Bühnenbild) Konzept in der Bochumer Jahrhunderthalle zu einem Glücksfall macht ist die Kombination von Aufführungsidee und Aufführungsort. Die ehemalige Gebläsemaschinenhalle – eines der famosen praxisstiftenden Kulturdenkmäler in der Region der Kulturhauptstadt Ruhr2010 – eröffnet mit ihren gewaltigen Dimensionen der Inszenierung Räume, die an keinem konventionellen Musiktheater existieren können. Die Protagonisten agieren in einer Art Megamobile aus weißen Planken, die alle drei Akte über permanent in Bewegung sind, ständig neue Ausschnitte und Perspektiven erschaffen.

Nichts in dieser Welt des Uneinigen, der Seinstäuschung, des Blendwerks, lautet die Botschaft, ist stabil, sicher. Nicht einmal der Boden ist es, auf dem sich das Drama der Liebe ereignet. Es ist das Bühne und Illusion gewordene Nirwana, jener "Nicht-Raum", nach dem Übergang von einer Welt in eine andere, der die "Musik des Schreitens und schließlich Entschwindens" (Ernst Bloch) korrespondiert. Bewegung und Unrast werden noch gesteigert durch eine nomadisierende Kugel, die mal Sonne, mal Mond, mal Video-Screen ist für Bilder alltäglicher wie symbolischer Welten. Eine Konzession an ein heutiges Publikum, das zu metaphysischen Anstößen der Bilder bedarf?

"Ich sehe nur was ich weiß"

Das Musiktheater, das sich in diesen Weiten im industriellen Ambiente entfaltet, ist letztlich ein Paradoxon. Der "Tristan" ist – dramaturgisch gesehen – ein Kammerspiel vom Geschehen im Inneren der Personen. Ausgerechnet diese Miniatur breitet Decker in der Bochumer Großkulisse aus. Reduktion in maximaler Matrix! Flächen von den Ausmaßen mehrerer Tennisplätze trennen bisweilen Tristan und Isolde, die sich nach Verschmelzung sehnen. Fast außer Blickweite Tristan und sein Schildträger Kurwenal, die in einem unauflöslichem Treuebündnis verschworen erscheinen.

Es passt ins Bild, dass außer Kleidung, Koffern, einem Schwert keine Requisiten da sind, die zur Ablenkung taugen. Nur wo Leere sei, könne etwas Neues geschehen, hat Decker unter Rückgriff auf den indischen Weisen Jiddu Krishnamutri zur Untermauerung seines Konzepts geäußert. Paradox nur dem, der sich dieser Wanderung durch die Ideenwelten nicht anzuschließen vermag. Wem sie sich nicht erschließt, der erlebt zumindest eine insgesamt musikalisch bravouröse Aufführung, prachtvoll spielende Duisburger Philharmoniker unter der Leitung Kirill Petrenkos, ein beeindruckendes Sängerensemble, allen voran Anja Kempe (Isolde) und Christian Frank (Tristan), und das famose ChorWerk Ruhr.

"Wie es fassen…", stößt Tristan im endlosen Liebesduett des zweiten Aufzugs hervor. Deckers Programmatik für die aktuelle Spielzeit der Ruhrtriennale hat den Nachteil, jene außen vor zu lassen, denen der spiritistische Zugang versperrt ist. Der Francis Bacon zugeschriebene Satz "Ich sehe nur was ich weiß" gilt hier einmal mehr. Der Bruch von Konventionen – hier die radikale Reduktion - ist häufig dann zu beobachten, wenn Sinnsuche Menschen treibt, Künstler zumal bewegt. So fasste in den 60er Jahren Wieland Wagner mit seinem Konzept des leeren Raums den "Tristan" in "Neu-Bayreuth". So ist es jetzt in Bochum zum Erlebnis geworden. Attitüde oder Kunst? Man möge selbst entscheiden.


Ralf Siepmann ist Medienjournalist und freier Autor in Bonn.