Über diese Rede wird man noch lange reden – wegen ihrer Vorgeschichte, aber auch wegen ihrer Aussagen in der Sache. Was herrschte im Vorfeld der Rede Benedikt XVI. nicht für eine Aufregung. Das päpstliche Wort in der Volksvertretung verstoße gegen die religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, hieß es seitens derjenigen, die der Rede fernblieben. So ein Unsinn! Weder identifiziert sich der Bundestag als Staatsorgan durch die Einladung zu dieser Rede einseitig mit der römisch-katholischen Kirche noch schafft er gar gemeinsame Institutionen.
Mehr als ein solches Identifikations- und Verknüpfungsverbot fordert der verfassungsrechtliche Grundsatz der Neutralität aber nicht. Die deutsche Verfassung statuiert sehr bewusst keinen Laizismus. Der Staat des Grundgesetzes ist neutral, indem er für die Religionen und Weltanschauungen seiner Bürger offen ist. Die verschiedenen Religionen und Weltanschauungen werden in den öffentlichen Raum integriert, nicht verdrängt, damit und weil sie immer auch "der Stadt Bestes" suchen. Wer als Mitglied des Bundestages diesen Beitrag der Religionen zum Gemeinwesen nicht zu würdigen weiß und meint, Religion sei bloß Privatsache, hat von der Welt wie von der Religion im Grunde nichts verstanden.
Reflektieren, was sie da eigentlich machen
Es sagt viel über unsere Gesellschaft, dass rund 100 Abgeordnete sich mit ihrem Fernbleiben inzwischen eine solche Position zueigen machen. Sie stehen für eine veränderte religionspolitische Großwetterlage: Der aggressiv-kämpferische Atheismus sucht bewusst den religiös-weltanschaulichen Konflikt, um in dessen permanenter Verschärfung den Laizismus als probate Lösung anpreisen zu können.
Vor diesem Hintergrund hält nun der Papst eine rechtstheologische Grundsatzrede über "die Grundlagen des freiheitlichen Rechtsstaates". Manche sagen, der Professor im Papst habe eine Vorlesung gehalten. Das stimmt. Benedikt XVI. hat als Theologe, theologisch, gesprochen. Aber soll das ernsthaft ein Vorwurf sein? Er hat den Abgeordneten die im hektischen Berliner Politikbetrieb seltene Gelegenheit gegeben zu reflektieren, was sie da eigentlich Tag für Tag machen: Wie sie gut und böse unterscheiden und welche Bedeutung Moral für Recht hat. Welche Grenzen ein szientistisches Weltbild hat und wie sich Vernunft und Natur zueinander verhalten. Auf welchen Grundlagen man nach Antworten suchen kann auf die großen Fragen nach dem, was der Mensch ist und wie er mit den anderen Menschen zusammenleben kann, will, soll.
Mit dieser Themensetzung hat der Papst dem Parlament eine Sternstunde beschert und seine Kritiker im Vorfeld der Rede zutiefst beschämt. Das ist die eminent politische Botschaft dieses Auftritts: Religiöse Rede bewirkt einen Perspektivwechsel, der dem Nachdenken über das Gemeinwesen guttut. Hier werden die ganz großen Fragen in zwanzig Minuten mit Kohärenz und Substanz angegangen. Wer das nicht zu würdigen weiß, dem ist nicht zu helfen.
Reicht die theologische Weltbeschreibung aus?
Davon unbenommen ist die Würdigung dessen, was er im Detail gesagt hat. Überspitzt gesagt, ließ die Rede nicht politisch, sondern theoretisch so manches zu wünschen übrig. Die theologischen Grundfiguren Josef Ratzingers setzen sich in dessen Pontifikat konsequent fort. Ob das von ihm gemachte Angebot der theologischen Weltbeschreibung und Weltdeutung aber ausreicht, um das Verhältnis von Moral, Recht und Religion angemessen zu beschreiben, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.
Die Liste der Rückfragen ist lang: Welcher Rechtsbegriff, welcher Naturbegriff, welcher Vernunftbegriff wird hier zu Grunde gelegt? Die hochgradige religiös-weltanschauliche Pluralität moderner Gesellschaften als factum brutum heutiger politischer Ordnung taucht bei Benedikt nicht auf. Dabei ist die freiheitliche Demokratie gerade eine Antwort darauf, dass wir in Fragen guten Lebens so unterschiedlicher Meinung sind. Deshalb erscheinen uns heute naturrechtliche Konzeptionen, wie sie der Papst anpreist, eher als Problem denn als Lösung. Gerade wegen der Vielzahl an Perspektiven auf Sinn- und Ordnungsfragen des Lebens ist die Unterscheidbarkeit (wohlgemerkt: nicht völlige Trennung) von Recht und Moral ist eine wesentliche Errungenschaft der Moderne.
Benedikts Rechtsbegriff verwischt genau diese Unterscheidung. Das kommt nicht von ungefähr, denn Benedikt verzichtet sehr bewusst darauf, uns eine Fortschrittsgeschichte des freiheitlichen Rechtsstaates zu erzählen. Folgt man seinen Ausführungen, wurzelt unsere politische Ordnung in Athen, Jerusalem und Rom. Da ist viel dran. Aber wo bleibt die Moderne? Ist der demokratische Verfassungsstaat nicht wesentlich Produkt neuzeitlicher Ideengeschichte und vor allem auch Ergebnis einer veritablen politischen Konfliktgeschichte, in der die Kirche allzu oft auf der falschen Seite stand? Man erzählt doch nur die halbe Geschichte, wenn man Paris, Washington und Königsberg (Kant!) unerwähnt lässt.
Diese Rede hätte er auch in den Fünfzigern halten können
Auf der Höhe der rechtstheoretischen Debatten unserer Zeit bewegt der Papst sich mit dieser Rede also sicher nicht. Dazu wäre auch eine gewisse Aufarbeitung der Diskussion um Rechtspositivismus und Naturrecht notwendig gewesen. Man sollte nicht vergessen, dass auch die nationalsozialistische Rechtsperversion sich auf ein Naturrecht berief. In der Nachkriegszeit stand dann vor allem das damalige Familienrecht und Sexualstrafrecht im Schatten eines christlichen Naturrechtsverständnisses. Wesentliche Vorgaben der Verfassung wurden so unterspült. Da stimmt es nachdenklich, dass Benedikt seine Rede genau so in den 1950er Jahren hätte halten können. Nur das Lob für die Grünen hätte damals gefehlt – ein Lob, das gerade deshalb vielleicht doch "vergiftet" ist.
Vor einigen Jahren diskutierte der heutige Papst mit Jürgen Habermas über Glaube und Vernunft, Demokratie und Religion. Die Diskussion hinterließ im Werk Habermas Spuren. Im Denken Benedikts erkennbar nicht. Der Gedanke, dass Wahrheitsfindung eine intersubjektive Komponente hat, ist ihm fremd. Benedikts Theologie ist in vielfacher Hinsicht vormodern. Das macht sie exotisch und deshalb interessant, aber sie bleibt eben von gestern. Benedikt lobt in seiner Bundestagesrede den Doyen der Rechtstheorie, Hans Kelsen dafür, dass er mit 84 Jahren noch zu neuen wissenschaftlichen Einsichten kam. Diese Hoffnung wird man bei Benedikt XVI. wohl nicht hegen können. Und das strahlt aus auf sein ganzes pontifikales Wirken.
Prof. Dr. Hans Michael Heinig lehrt Verfassungsrecht und Staatstheorie an der Georg-August-Universität Göttingen und ist im Nebenamt Leiter des Kirchenrechtlichen Instituts der EKD.