Ein leidenschaftliches Papstwort wäre spannender gewesen
Der Papst spricht vor dem Bundestag. Ein Moment, auf das interessierte Publikum und das konfessionelle Deutschland lange hindiskutiert haben. Auch der Papst war sichtlich bewegt von dem Moment, in dem er vor dem Parlament seines Heimatlandes stand. Seine Rede allerdings war abstrakt, so wenig konkret, dass sie viel Spielraum für Interpretationen ließ. Und das ist schade.
22.09.2011
Von Burkhard Weitz

Nun gut, niemand hat erwartet, dass Benedikt XVI. wie ein Prophet auftreten würde. Wie ein leidenschaftlich Partei nehmender, wie einer, der am Elend der wirtschaftlich Verarmten und politisch Entrechteten leidenschaftlich Anteil nimmt – so ist dieser Papst nicht gestrickt.

Manche haben befürchtet, der Papst würde vom Rednerpult des Deutschen Bundestages missionieren oder Politik betreiben, zum Beispiel Finanzpolitik in einer Zeit der Finanzkrise – auch das sind abwegige Erwartungen.

Stattdessen ein Papst, der jede Eindeutigkeit scheut. Er tritt eher furchtsam und zurückhaltend auf, als habe ihm die massive Kritik der Deutschen im Vorfeld seines Heimatbesuchs zugesetzt. In seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag wich auf das aus, was er als Universitätsprofessor gelernt hat: Aufs Dozieren.

Man musste schon sehr genau hinhören, um herauszubekommen, wovon er überhaupt geredet hat: Von Natur, Vernunft und Gewissen, von Sein und Sollen. Da muss man schon zweimal nachlesen, um das zu verstehen. Hier ein Versuch, die Rede zu verstehen.

Von Sein auf Sollen schließen - was kann das heißen?

Der Gedanke des Naturrechts gelte heute als katholische Sonderlehre, sagte der Papst. Man schäme sich schon beinahe, das Wort überhaupt zu erwähnen. Da übersetzen wir doch lieber erstmal, bevor wir weiterlesen: "Naturrecht" heißt: Aus der Natur der Dinge und des Menschen, lassen sich ethische Vorstellungen ableiten. Vorstellungen die gültig sind, egal wie sich die Gesellschaft entwickelt. Hilft die Vorstellung vom "Naturrecht" also wirklich weiter? Vermutlich nicht.

Ein Beispiel: Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Mehrzahl der Menschen überzeugt, dass der Mensch als Mann und Frau und zur Fortpflanzung geschaffen sei. Man schloss daraus: Homosexualität sei Perversion. Inzwischen wissen wir, wie viel Leid solche Diffamierungen ausgelöst haben.

Aber der Papst hat in seiner Rede vor dem Bundestag keine Beispiele genannt. Deswegen bleibt das, was er mit seinen Ausführungen zum Naturrecht wirklich sagen wollte, Spekulation.

Ein positivistisches Verständnis von Natur und Vernunft gehe davon aus, dass zwischen Sein und Sollen ein unüberbrückbarer Graben bestehe, sagte der Papst. So begann ein Abschnitt, in dem er sich auf bioethische Fragen zu beziehen schien. Was das bedeuten könnte? Hier ein Beispiel: Vom Sein auf Sollen schließt man dann, wenn man von der Geschöpflichkeit des Menschen auf seine Würde zurück schließt. Oder, um es noch genauer zu illustrieren: Einmal befruchtet, ist die Zelle ein Mensch und unterliegt damit dem Lebensschutz. Folglich wäre Präimplantationsdiagnostik (PID) Selektion und Abtreibung Mord.

Aber der Papst hat in seiner Rede vor dem Bundestag nichts von PID und Abtreibung gesagt. Das machte die Rede so unbrisant, dass bei dem letzten Satz, der hier zitiert werden soll, die Kamera im Bundestag mit einem großen Schwenk ein denkwürdiges Bild einfing: Eine ganze Sitzreihe voll einnickender Kardinäle.

Was war Positivismus noch gleich?

Genau während dieses Kameraschwenks sagte der Papst einen sehr langen, und bei eingehender Lektüre ungeheuerlichen Satz. Es sei ein Verlust, sagte er, dass naturwissenschaftlicher Positivismus eine katholisch-philosophische Ontologie ersetze. Und dann:

"Ich sage das gerade im Hinblick auf Europa, in dem weite Kreise versuchen, nur den Positivismus als gemeinsame Kultur und als gemeinsame Grundlage für die Rechtsbildung anzuerkennen, alle übrigen Einsichten und Werte unserer Kultur in den Status einer Subkultur verweisen und damit Europa gegenüber den anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt und zugleich extremistische und radikale Strömungen herausgefordert werden."

Uff. Wer das verstehen will, muss erst einmal tief durchatmen.

Was war Positivismus noch mal? Nach positivistischem Verständnis sind nur die Sätze wahr, die sich verifizieren lassen und all die Sätze falsch, die sich falsifizieren lassen. Punkt. Damit sind all die Aussagen, die sich weder verifizieren noch falsifizieren lassen in den Bereich privater Spekulation abgeschoben. Sie werden zu einer Art Subkultur. So weit kann man dem Papst noch folgen.

Ein leidenschaftliches Papstwort wäre spannender gewesen

Aber das was dann folgte, könnte eine Ungeheuerlichkeit bergen – würde man über diesem Satz nicht zusammen mit den Kardinälen einschlafen.

Der Papst sagte: Europa habe sich mit seiner positivistischen Haltung gegenüber anderen Kulturen der Welt in einen Status der Kulturlosigkeit gerückt. Stimmt das? Haben wir weniger Kultur als andere, weil wir nur gelten lassen, was sich verifizieren lässt, und ablehnen, was falsifizierbar ist?

Weiter: Europa habe mit seiner Haltung extremistische und radikale Strömungen herausgefordert. Wie ist das zu verstehen? Hat sich Europa mitschuldig gemacht am Extremismus und am Radikalismus anderer?

Die Rede des Papstes war sehr abstrakt. Abstraktion war der Schutz, hinter dem er Äußerungen gemacht hat, die vielleicht anfechtbar, vielleicht sogar provokativ sind. Man weiß es nicht. Man kann nur spekulieren. Schade.

Ein leidenschaftliches Wort des Papstes, mit dem er am Elend der wirtschaftlich Verarmten und politisch Entrechteten Anteil genommen hätte, wäre anfechtbarer, spannender gewesen. Aber so ist dieser Papst nicht gestrickt.


Burkhard Weitz ist Redakteur beim evangelischen Magazin chrismon und Portalleiter von zivil.de.