Das Kreuz in der Silberkugel: Berlin und die Religion
Wer am Berliner Hauptbahnhof aussteigt, sieht in der Ferne das Segeldach des Sony-Centers leuchten, das Mini-Manhattan am Potsdamer Platz und die gläserne Reichstags-Kuppel, nicht zu vergessen der markante Fernsehturm. Diese Bauten bestimmen heute das Stadtbild Berlins. Und die Kirchen? Sie stehen einsam neben den neuen Stahl-Glas-Komplexen. Sie führen eine Kulissenexistenz. Nur der wuchtige Berliner Dom sticht als "preußische Pickelhaube" dominant heraus. Aus der Luft betrachtet scheint Religion in dieser Stadt, die der Papst bald besuchen wird, nicht all zu präsent zu sein. Oder doch?
21.09.2011
Von Vera Rüttimann

Dass Berlin ein Ort ist, an dem die Menschen hungrig sind nach Orientierung, Glaube und Sinn, zeigt sich nicht nur an ihren vielen spirituellen Zirkeln, sondern auch an ihrem äußeren Kleid. Wer sich auf den Weg macht, trifft in der ganzen Stadt auf Zeichen, Inschriften und Gegenstände, die die Religion zum Thema haben, geschaffen von Fotografen, Designern und Installationskünstlern. An einem Haus an der Chaussee-Straße steht beispielsweise aus unerfindlichem Grund "Heiligung". Auf einer Bank an der Teerstraße in Mitte heißt es provokant "Nur Christen". Über einem Club in der Teerstraße trifft man auf das "Auge Gottes", ein beleuchtetes Dreieck, das die Trinität darstellt.

Gott wohnt sogar im Fernsehturm: Der Flaneur sieht ihn dann, wenn in der großen Silberkugel am Firmament ein hell illuminiertes Lichtkreuz erscheint, dass die Sonnenstrahlen reflektiert. Zu Ostzeiten wurde diese Erscheinung listig als christliche Revanche an den atheistischen Machthabern interpretiert.

"Jesus, I love you"

Seit je her ist Religion ein Thema, das stark in der Graffiti und Stencil-Kunst vertreten ist. Berlin ist seit Jahren ein zentraler Fixpunkt dieser Szene. Besonders häufig arbeiten Street-Art-Künstler in der Gegend rund um das Schlesische Tor in Kreuzberg. Wie in dieser Nacht, in der oftmals nur das laute Zischen aus Dosen zu vernehmen ist. Vermummte Leute sprühen ihre Tags an Wände und huschen flugs weg, wenn Gefahr in Verzug ist. Andere kleben Sticker an Telefonzellen, Haustüren und Zigarettenautomaten.

An der Schlesischen-Straße sind junge Leute mit einem Eimer Kleister unterwegs und bringen Plakate an Hauswände an. Einer davon hat wohl einen religiösen Hintergrund. Auf seinen Werken steht "Jesus, I love you", "Maria" oder "Shiva". Manchmal sieht man auch nur ein Kruzifix oder ein Herz. Halb Berlin ist mit seinen Motiven überzogen. Wer der Künstler ist, weiß man kaum.

Besprühte Bank in der Teerstraße. Foto: Rüttimann

Auch der bevorstehende Papstbesuch ist bei Street-Art-Künstlern ein Thema: Manche Motive stechen durch gezielte Provokation heraus, wie etwa das Porträt von Papst Benedikt XVI. mit der Überschrift "Your so porno". Auch das Plakat der Anti-Papst-Gegner "What the fuck" sticht ins Auge. Andere Motive wie "Jesus" strahlen durch ihren grafischen Reiz schlicht Magie aus oder lassen einen rätselnd auf der Straße zurück. Wie die Aufschrift "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele". Street-Art Motive von Engeln, Pentagrammen und Amuletten zeigen, dass sich in Berlin viele Menschen von Esoterik und Okkultismus angesprochen fühlen.

Der Trend zur Patchwork-Religion auf dem T-Shirt

In der Potsdamer-Straße, dem etwas tristen Hinterhof des glitzernden Potsdamer Platzes, befindet sich eine Institution in Sachen religiöser Devotionalien. "Ave Maria" steht in roten Lettern über dem Laden, in seinem Innern weht ein Hauch von Altötting und Tschenstochau. In den Ständern hängen Rosenkränze verschiedenster Ausführungen. Aus den Regalen blicken einem Marien-Figuren in diversen Farben und Größen entgegen. Die Käufer können T-Shirts mit Jesus- und Heiligen-Motive erwerben. Ein Renner sind Weihrauchtränen und Harze in Farbtönen wie Bernsteingelb und Quarzrosa, die in Gläsern lagern.

Dieses imposante Sortiment erstaunt in einer Stadt, in der nur ein Drittel der Einwohner einer christlichen Konfession angehören. Zu den Kunden von "Ave Maria" gehören Tätowierer, die Heiligenmotive als Vorlagen für ihre Tattoos suchen, Gothics und Street-Art-Künstler, die sich hier Inspiration holen. Nicht selten auch Innendekorateure, die für ihre Bar ein extravagantes Stück suchen. Es kommen auch "normale" Gläubige, die nach einem beleuchteten Stein zum Meditieren suchen oder sich wie jetzt zum Papstbesuch mit Kerzen mit dem Porträt des Papstes eindecken.

In der Kastanienalle im Prenzlauer Berg hat sich ein T-Shirt-Macher auf Kleidungsstücke mit individuellen Aufschriften spezialisiert. "Jesus, Crisis" heißt es auf einem T-Shirt in der Auslage des Ladens, das viele neugierige Blicke auf sich zieht. In der Begeisterung für solche Schriftinhalte sieht der Ladeninhaber einen Zusammenhang mit dem Trend zur Patchwork-Religion, "bei der Jugendliche sich ihre Religion selbst mischen, indem sie sich aus Symbolen und Inhalten bedienen, die ihnen zusagen."

Mit Gott im "Badeschiff"

Die Oranien-Straße ist die Lebensader Kreuzbergs. Hier gehen sie alle durch, die Touristen, gestressten Stadtmenschen, Flaneure und Künstler. Zum Ruhen setzen sie sich in die vielen Bars und Cafés, die die Straße säumen. Auffallend viele von ihnen tragen Namen mit religiösem Bezug: Sie heißen "Tor zur Hölle", "Café Jenseits" oder "Luzifer". Wer entlang der Oranien-Straße geht, entdeckt an einer Bar ein von Rosen umranktes Heiligenbildnis des verstorbenen Sängers Michael Jackson. Weiter oben am Straßenende hängen in einem Weinladen schwere Ölbilder mit biblischen Szenen.

Nirgends in Deutschland ist die Konzentration der Religionen, Sekten und Kulte grösser als in Berlin. Besonders das urbane Kreuzberg, das hier in den Cafés sitzt, ist umgeben von einem multireligiösen Kosmos. Am Kottbusser Tor sitzt die sunnitische Moschee Mevlana Camii wie eine steinerne Kröte auf dem Dach eines Supermarktes. Ansonsten liegen Tempel, Moscheen und Schreine gut versteckt in Hinterhöfen. Auch hier ist die Religion in den Stadtwänden verewigt: An ihnen entdeckt man niedergeschriebenen Koranverse, aufgesprayte Porträts von Buddha und dem Dalai Lama und Kopftuch-Frauen. Am Eingang der Kneipe "Rote Harfe" grüßt Diana als Graffito.

"Ahne" wohnt in der Choriner-Strasse gleich neben Gott. Mit ihm unterhält er sich über Dinge des Alltages, die ihn als Berliner beschäftigen: Neue Moscheen, Gentrifizierungs-Prozesse, die trockenen Schrippen beim Bäcker oder brennende Autos in Mitte - alles, was einen Großstädter derzeit so beschäftigt. Sein Dialogprojekt mit seinem bestem Kumpel und Nachbarn nennt der Autor "Zwiegespräche mit Gott". Die Texte trägt er seit einigen Jahren schon im Radio und auf der Reformbühne "Heim & Welt" im Kaffee Burger vor. Aufgrund ihres Humors und Tiefgangs genießen sie bei Fans Kultstatus. Zur Premiere seines dritten Buches "Zwiegespräche mit Gott – Unser täglich Brot" bat "Ahne" unlängst in den Kreuzberger Szenetreffpunkt "Badeschiff". Unter den Zuhörern waren wohl auch einige sinnsuchende Stadtbewohner, die Berlin auch als geistige Baustelle begreifen. Unfertig, widersprüchlich und herausfordernd.


Vera Rüttimann ist freie Autorin in Basel und Berlin.