"Der arabische Frühling ist im Jemen angekommen"
Im Jemen geht das Regime von Präsident Salih mit Gewalt gegen Demonstranten vor. Sie fordern den Rücktritt des seit 1978 regierenden Präsidenten. Der Konflikt im Jemen sei kaum mit den Revolten in anderen arabischen Ländern zu vergleichen, sagt Sebastian Sons vom Deutschen Orient-Institut in Berlin. Der aktuelle Konflikt hat mehrere Ursachen: Die Jugend ist ohne Perspektive, die Bevölkerung verarmt, und das Land hat seine frühere Teilung noch nicht wirklich überwunden.
20.09.2011
Die Fragen stellte Anne Kampf

Wir hören von Chaos im Jemen - offenbar wird auf Demonstranten geschossen. Haben Sie Kontakte in das Land, wissen Sie Näheres?

Sebastian Sons: Wir haben momentan auch keine direkten Kontakte in den Jemen, weil das sehr schwierig geworden ist. Wir haben allerdings vor kurzem mit hochrangigen Diplomaten sprechen können, die im Jemen waren oder auch noch teilweise sind. Die Situation hat sich in den letzten Monaten deutlich zugespitzt, und es sind unterschiedliche Oppositionsgruppen, die das Regime von Präsident Ali Abdullah Salih mittlerweile sehr stark unter Druck setzen. Der arabische Frühling ist auf jeden Fall im Jemen angekommen.

Welche unterschiedlichen Gruppen sind das?

Sons: Der Auslöser für die Proteste kommt von einer jungen Bewegung, die um ihre Zukunft kämpft und kaum Zugang zu den wenigen verbliebenen Ressourcen des Staates hat. Die Arbeitslosigkeit ist immens hoch im Jemen. Es gibt viele gut ausgebildete Absolventen der Universitäten, die - ähnlich wie auch in Tunesien oder Ägypten - keinen Job finden, die frustriert sind darüber, dass sie sich einfach nicht weiter entwickeln können, da alle wichtigen Stellen des Staates durch Günstlinge des Systems besetzt waren. Das ist die eine Seite.

Es gibt allerdings auch schon seit vielen Jahren eine innerparlamentarische Opposition im Jemen. Das ist deswegen erstaunlich, weil es das in vielen anderen arabischen Ländern nicht gibt. Jemen verfügt tatsächlich über eine demokratische Tradition. Gerade nach der Wiedervereinigung 1990 gab es auch den Willen, durch politischen Pluralismus Nord und Süd, also die beiden wiedervereinigten Teile des Landes, wirklich zu vereinen und miteinander zu versöhnen. Das hat nicht funktioniert - wegen Machtstreben und Egoismen, aus denen Salih als Sieger hervorgegangen ist.

Deswegen gibt es nach wie vor einen großen Block von unterschiedlichen Oppositionsparteien. Es sind Sozialisten dabei, Nationalisten, Islamisten, die sich jetzt auch deutlicher gegen den Präsidenten wenden, als sie das vorher getan haben. Wir haben also mit der Jugend eine außerparlamentarische Opposition auf der Straße und zweitens eine Oppositionsgruppe, die aus dem System heraus schon existent war, und die sich jetzt deutlicher formiert und Druck auf den Präsidenten beziehungsweise auf das System von Ali Abdullah Salih ausübt. Das ist die Opposition des Parlaments.

Es gibt im Jemen ein Verfassungssystem und es gab freie Wahlen mit mehreren Parteien. An welcher Stelle ist das demokratische System gekippt?

Sons: Das ist relativ bald nach der Wiedervereinigung deswegen gekippt, weil es große Dissonanzen gab zwischen den sozialistisch geprägten Parteien des Südens und der Partei von Ali Abdullah Salih, des Allgemeinen Volkskongresses des Nordens. Diese beiden Strömungen konnten sich einfach nicht zusammenraufen. Die Akteure aus dem Süden haben bis heute das Gefühl, vernachlässigt zu werden, nicht in dieses politische System reinzugehören. Salih hat sich als Präsident eines geeinten Jemen durchgesetzt, er war vorher schon Präsident des Nordens und hat die aufstrebenden Gruppierungen im Süden immer wieder an den Rand gedrängt. Wahlen wurden nach und nach manipuliert, viele Parteien sind zu Wahlen gar nicht mehr angetreten.

Salih hat mit Winkelzügen immer wieder seine Amtszeit verlängert und wollte das auch jetzt wieder tun: 2013 stünden die nächsten Präsidentschaftswahlen an, zu denen er eigentlich nicht mehr antreten dürfte. Trotzdem hat er wieder mehrere Kniffe gefunden, um sich doch wieder zur Wahl zu stellen, und er hat gleichzeitig angekündigt, seinen Sohn zum Nachfolger zu machen. Das hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Diese Ankündigung haben dann die innerparlamentarische sowie die außerparlamentarische Oppositionsbewegung nicht mehr mitgemacht.

Treten die Gruppen mit einer gemeinsamen Zielvorstellung auf oder ist es wirklich ein totales Chaos?

Sons: Als Chaos würde ich es gerade im Jemen nicht bezeichnen, eben aufgrund dieser parlamentarischen und demokratischen Tradition, die dort vorherrscht. Es gibt natürlich einen geeinten Slogan, der heißt mittlerweile: Salih muss weg, beziehungsweise: Salih darf nicht wiederkommen, weil er ja immer noch in Saudi-Arabien ist.

Der jemenitische Präsident Ali Abdullah Salih. Foto: dpa/Stringer

Sollte Salih wirklich nicht zurückkommen oder sollte dieses System stürzen - was bisher noch nicht hundertprozentig abzusehen ist - dann wird es spannend zu sehen, inwieweit sich die einzelnen Gruppierungen einigen können. Denn es spielen noch mehr Interessensgruppen mit rein, als es zum Beispiel in Libyen der Fall ist. Wir haben ganz wichtige Stammesführer, wir haben die Jugend, wir haben dir traditionelle Opposition, die jetzt Morgenluft wittert und eventuell endlich die Macht übernehmen kann. Wir haben Militärs, und wir haben einfach auch eine wahnsinnig arme Bevölkerung. Fast jeder zweite Jemenit muss von zwei Dollar am Tag leben, der Jemen ist das ärmste Land auf der arabischen Halbinsel. Das birgt natürlich unglaublichen sozialen Sprengstoff.

Seit Jahren gibt es im Jemen eine Autonomiebewegung im Süden, die ihren eigenen Staat wiederhaben will. Ein Stammesaufstand der so genannten Huthi im Norden wurde von Salih in den letzten Jahren mit brutalster Gewalt niedergekämpft, und wir haben Al Qaida, die dort ihren sicheren Hafen gefunden hat. Das sind drei Zentrifugalkräfte, die am Jemen reißen und ziehen und die auch berücksichtigt werden müssen, wenn man darüber nachdenkt, was eigentlich ein Post-Salih-Jemen ausmachen könnte.

Könnte ein Bürgerkrieg daraus entstehen?

Sons: Die Gefahr besteht mit Sicherheit. Das liegt nicht nur an den unterschiedlichen Interessen, sondern auch daran, dass der Jemen eines der Länder ist, in dem die Leute am meisten Waffen haben. Nicht nur die berühmt-berüchtigten Krummdolche der Stämme, sondern auch AK-47 und Kalaschnikows et cetera. Man schätzt, dass auf einen Jemeniten zumindest zwei Waffen kommen. Das heißt, das Potential zur Gewalt ist da - bisher allerdings von Seiten der Demonstranten zurückhaltend, weil sie genau wissen: Sie müssen einen friedlichen Umsturz wagen, weil sie sonst komplett diskreditiert sind, auch in der Öffentlichkeit. Aber es gab bereits militärische Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und Truppen von abgefallenen Generälen, und aus einer dieser Schlachten resultierte auch die Verletzung von Salih, wegen der er nach Saudi-Arabien ausgeflogen wurde.

Mit welchem Land würden Sie die Situation am ehesten vergleichen, wenn man die Länder der arabischen Revolution anschaut?

Sons: Es ist immer sehr schwierig, die einzelnen Länder miteinander zu vergleichen, weil jedes Land wirklich seine eigenen Charakteristika hat. Vielleicht ist diese sehr traditionale Lebensweise in Stämmen zu vergleichen mit Afghanistan und in Abstrichen auch mit Libyen, aber sonst mit keinem arabischen Land. Was die Gewalt angeht, ist es im Jemen glücklicherweise noch nicht auf dem Niveau, wie wir das in Syrien und Libyen gesehen haben, aber das sind eher die vergleichbaren Modelle. Also wir sehen hier keinen friedlichen Umsturz. Wir sehen keine Revolution wie in Tunesien.

Was wird Ihrer Einschätzung nach als nächstes passieren?

Sons: Die Frage ist: Kehrt Salih noch mal aus Saudi-Arabien zurück? Wenn ja: Welche Funktion möchte er dann übernehmen? Möchte er sein Gesicht wahren und auf das Altenteil zurückgeschoben werden, oder möchte er nur noch Vorsitzender seiner Partei sein, oder in die Opposition gehen? Bleibt er quasi noch ein politischer Akteur im Jemen? Oder lassen sich damit die Leute nicht mehr abspeisen und wollen ihn vor Gericht sehen? Das ist momentan fraglich und davon hängt es ab, ob sich eher die moderaten Kräfte durchsetzen, oder die Kräfte, die diese Revolte angezettelt haben, nämlich die jungen Leute von der Straße, die einfach nichts mehr zu verlieren haben und viel mehr zu gewinnen.

Wenn Salih clever ist und die Zeichen der Zeit erkennt, könnte er versuchen, sich schrittweise aus der Politik zurückzuziehen, mit den Leuten verhandeln, die er lange Jahre kennt, sie versuchen zu überzeugen, dass es ohne Gewalt gehen sollte. Dann könnte ich mir vorstellen, dass die Revolution der Straße sozusagen im Schlamm stecken bleibt.

Allerdings wird ganz wichtig sein, wie sich externe Akteure verhalten: Was machen die USA? Seit Jahren ist Salih einer der wichtigsten Partner im Kampf gegen den Terror für die Amerikaner. Lassen sie ihn fallen oder halten sie an ihm fest? Was macht Saudi-Arabien? Das sind die beiden wichtigsten Akteure, die auf den Jemen einwirken und die mit Sicherheit nicht wollen, dass im Jemen Chaos herrscht und dass Al Qaida dort noch mehr Möglichkeiten hätte, sich auszubreiten. Denn das hat indirekte Auswirkungen auf die USA und sehr direkte Auswirkungen auf Saudi-Arabien.


Sebastian Sons ist wissenschaftlicher Abteilungsleiter beim Deutschen Orient-Institut in Berlin. Er ist Islamwissenschaftler und Politologe und beschäftigt sich unter anderem mit den aktuellen Transformationsbewegungen in Ländern des Nahen Ostens.