Was bedeutet die Berlin-Wahl für die politische Landschaft in Deutschland? Der Berliner Parteienforscher Carsten Koschmieder analysiert im Gespräch mit evangelisch.de das Wahlergebnis von diesem Sonntag.
Herr Koschmieder, sind Sie davon überrascht, wie die Berliner gewählt haben?
Carsten Koschmieder: Ja. Ich hatte mit deutlich weniger Stimmen für die Piratenpartei gerechnet und die Grünen stärker eingeschätzt, was sicherlich miteinander zusammenhängt.
Der Wahlsieger Klaus Wowereit kann weiter regieren, wenn auch mit anderen Partnern. Lassen sich aus dem Berliner Ergebnis Aussagen über den Zustand der SPD insgesamt ableiten?
Koschmieder: Wenn man das Ergebnis von diesem Sonntag als gut oder zumindest ordentlich bewertet, dann kann man sagen, die Sozialdemokratische Partei ist deutlich auf dem Weg der Besserung. Gerade in bundesweiten Umfragen hat die Partei wieder zugelegt. Ich glaube nicht, dass es im Bund bald Neuwahlen gibt, aber immerhin sieht die SPD aus wie eine seriöse, wählbare Alternative, die bereitsteht, die Regierung zu übernehmen, und nicht wie ein Chaoshaufen, der noch immer seine Niederlage beim letzten Mal verarbeiten muss.
Die CDU freut sich über einen kleinen Zuwachs von 21,3 auf 23,4 Prozent. Trotzdem stellt sich die Frage, ob die Partei ihre frühere konservative Stammwählerschaft überhaupt noch erreicht. Wie sehen Sie das?
Koschmieder: Die Frage ist erstens: Besteht diese Stammwählerschaft überhaupt noch als signifikante Gruppe? Und die zweite Frage: Wenn es die noch gibt, gibt es sie auch in Berlin? Ich glaube, dass diese Gruppe in Großstädten so nicht mehr existiert, als dass es sich lohnte, sie aus parteistrategischer Sicht anzusprechen. Die CDU hat es in Großstädten generell schwer, das war schon immer so. Angela Merkel und andere Parteistrategen wie Ursula von der Leyen und Norbert Röttgen haben unter anderem deswegen einen Modernisierungskurs der Partei eingeschlagen, weil eben diese konservativen Wähler nicht ausreichen, um Wahlen zu gewinnen. Man darf sie nicht vernachlässigen, was der CDU-Vorsitzenden von einigen ja auch vorgeworfen wird. Aber gerade in Städten wie Berlin sind die Konservativen nicht wichtig genug, als dass man groß auf sie Rücksicht nehmen müsste. Deswegen war es aus meiner Sicht auch sinnvoll, dass der Berliner Spitzenkandidat Frank Henkel einen auf eine moderne Mitte ausgerichteten Wahlkampf führte und nicht mit Law and Order oder Themen wie Ausländerkriminalität oder angezündeten Autos.
Wo ist die politische Heimat
für Konservative?
In der Bundespolitik spielen ausgewiesene konservative Politiker kaum noch eine Rolle. Wo finden Wähler aus dem rechtskonservativen, vielleicht auch konservativ-christlichen Spektrum noch eine Heimat?
Koschmieder: Diese Frage stellt sich. Manche Politiker aus diesem Spektrum wie Erika Steinbach sind sehr unzufrieden gegangen, weil sie unzufrieden mit dem Kurs der Kanzlerin waren. Angela Merkel hofft, dass sie zwar vielleicht fünf Prozent sehr konservativer, christlicher Wähler verliert, dafür aber zehn Prozent in der Mitte dazugewinnt. In diesem Fall wäre es für die Partei sozusagen netto ein Gewinn. Über die Größe der Gruppe, die man dabei verliert, bin ich nicht sicher, zumal es keine große konservative, demokratische Partei gibt, die sie aufsammelt. In traditionell konservativen Ländern wie Bayern und Baden-Württemberg treten CDU und CSU darum auch bewusst konservativer auf als im Bund oder in Berlin.
Können sie sich eine bundesweite Partei rechts von der CDU vorstellen?
Koschmieder: Demnächst sehe ich das nicht. Alle Personen, die dafür in Frage kämen wie etwa Friedrich Merz, haben schon gesagt, dass sie so etwas nicht vorhaben. Die CDU hat es in der Vergangenheit durch politische Initiativen und Äußerungen dieses Spektrum an sich zu binden. Man hat auch in Berlin gesehen: Die rechtspopulistischen Parteien, die am Rand des demokratischen Spektrums stehen und die es in vielen europäischen Ländern gibt, die haben es in Deutschland aus verschiedensten Gründen sehr schwer. Zumindest mittelfristig sehe ich da keine Gefahr.
Grüne in Zukunft
wieder nur Juniorpartner
Die Grünen stellen zwar in Baden-Württemberg den Regierungschef, müssen sich ansonsten aber wohl wieder bestenfalls auf die Rolle des Juniorpartners einstellen. Sehen Sie das auch so?
Koschmieder: Die Hoffnungen auf Regierungsübernahme, die die Grünen in Berlin zwischenzeitlich hatten, als auch die Überlegungen, ob man nicht einen grünen Kanzlerkandidaten brauche, waren ziemlich unsinnig, das ist jetzt wieder ziemlich deutlich geworden. Knapp 20 Prozent für die Grünen wie in Berlin ist ein super Ergebnis, gerade auch im Verhältnis zu früheren Ergebnissen, zum Beispiel in Ostdeutschland. Man muss Baden-Württemberg mit den Themen Stuttgart 21 und Fukushima und einem populären Spitzenkandidaten als extreme Ausnahme sehen. Es ist ja nicht sehr wahrscheinlich, dass ständig Atomkraftwerke kurz vor Wahlen in die Luft fliegen. Ich denke, die Grünen werden sich mittelfristig auf einem ordentlichen Wert konsolidieren - eher 15 bis 20 Prozent als sieben Prozent. Aber sie werden nicht reihenweise mehr als 30 Prozent holen und den Ministerpräsidenten stellen.
Die größte Sensation dieses Wochenendes ist wohl das Abschneiden der Piratenpartei mit fast neun Prozent. Ist das ausschließlich dem Protestwählerpotenzial geschuldet?
Koschmieder: Es hat wie immer vielfältigste Gründe. Die Piraten haben sich von Anfang auf Berlin konzentriert und zum Beispiel viel mehr Plakate aufgehängt als zur vorigen Bundestagswahl, weil sie gesehen haben, dass sie es hier schaffen können. Dann ist ihnen entgegengekommen, dass die Linkspartei in Berlin zwar ordentlich dasteht, im Bund aber ein katastrophales Bild abgibt. Die Grünen haben ihren Wahlkampf weniger auf ihr eher linkes Stammmilieu zugeschnitten, sodass sich ihre Stammwähler ein bisschen allein gelassen fühlten, zumal Renate Künast eine Koalition mit der CDU nicht ausgeschlossen hat. Die Piraten wurden da als Alternative gesehen, und die Medien stürzten sich auf das neue Phänomen, was ihnen extrem geholfen hat. Viele Wähler wussten gar nicht, was die die Piraten im Einzelnen wollten, wünschten sich aber, dass die neue Partei frischen Wind ins Parlament bringt, weil sie irgendwie anders sind. 60 Prozent der Piraten-Wähler sagen, die Partei zu wählen habe auch damit zu tun, den anderen einen Denkzettel zu verpassen.
Protest in Richtung
Bundesregierung
Was halten Sie von dem Phänomen, dass Landtags- und sogar Kommunalwahlen häufig als Protestwahlen gegenüber der Bundespolitik genutzt werden?
Koschmieder: Bei Landtagswahlen geht es immer sowohl um landes- wie um bundespolitische Themen. Die FDP konnte in Berlin keine Themen setzen, aber das schlechte Bild, das die Bundesregierung derzeit abgibt, hat sich sicher auch in Berlin widergespiegelt. Andererseits hat die SPD vor allem wegen Klaus Wowereit gewonnen. Die Hemmschwelle, eine neue oder Protestpartei zu wählen, ist auf Landesebene etwas niedriger als im Bund, man probiert sie eher aus, um zu sehen, wie sie sich machen. Außerdem ist es für kleine Parteien bundesweit viel schwerer, sich zu zeigen, und auch die Themen sind andere. Zu weltwirtschaftlichen Themen beispielsweise schreibt man Newcomern noch nicht unbedingt eine Kompetenz zu, wohingegen in lokalen oder regionalen Abstimmungen kann auch eine kleine oder Ein-Themen-Partei gut abschneiden.
Nur noch einer von hundert Wahlberechtigten geht zur Wahl und stimmt für die Liberalen. Wird die FDP noch gebraucht?
Koschmieder: Gesamtgesellschaftlich gesehen wäre es sicher gut, wenn es weiter eine explizit liberale Partei gäbe. Die Piratenpartei, die sich auch die Bürgerrechte zum Thema genommen haben, sehe ich mit ihren doch sehr linken Forderungen nicht als Alternative. Wirtschaftsliberal zu sein steht zurzeit nicht hoch im Kurs. Dass es eine Partei gibt, die dieses Feld trotzdem besetzt, fände ich schon wichtig. Aber natürlich muss eine solche Partei auch ein vernünftiges Personal haben und darf sich nicht ständig streiten. Im jetzigen Zustand braucht die FDP tatsächlich niemand, und sie ist eher ein Klotz am Bein der Regierung.
Carsten Koschmieder ist Diplom-Politologe und Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Arbeitsstelle Empirische Politische Soziologie an der Freien Universität Berlin.