Fischkutter und EU-Parlament: Zwei Welten, ein Problem
Knapp 1.000 Straßenkilometer liegen zwischen dem Fischerdorf Stahlbrode und dem EU-Parlament in Straßburg. Was Bernd Schütze im Sund fangen darf, wird in Straßburg und Brüssel entschieden - auch von Werner Kuhn, einem von 736 Abgeordneten im EU-Parlament.
16.09.2011
Von Martina Rathke

Bernd Schütze wollte schon immer Fischer werden: Der würzige Geruch von Fisch, die ehrliche Arbeit auf dem Kutter - das mochte er bereits als Kind. Im Herbst 1968 begann der Mann aus Stahlbrode am Strelasund gegenüber der Insel Rügen seine Lehre in der "Fischereiproduktionsgenossenschaft". Der Heringspreis in der DDR war subventioniert, Fangverbote ein Fremdwort. Die Zukunft schien glänzend - bis zur Wende. Mit dem Einzug der Marktwirtschaft verschwand das Wort "Produktion" aus dem Namen der Genossenschaft. "Damit begann unser Untergang", sagt Schütze heute mit bitterer Stimme.

Der 57-Jährige sitzt auf Kutter STA 005 und pfriemelt nach dem morgendlichen Zander-Fang mit seinen wettergegerbten Händen die verknoteten Langleinen auseinander. Die EU-Fischereipolitik ist für Schütze inzwischen ein viel größeres Knäuel, ein undurchschaubares Gewirr von Verordnungen und Restriktionen.

Der Fischer: "Die Hoffnung stirbt zuletzt"

Um Fänge zu dokumentieren, reichte früher ein Logbuchschein pro Kutter und Woche, erinnert sich der Chef der Fischereigenossenschaft. Doch nichts ist wie früher. Heute seien es mitunter 14 Scheine. Am Kai von Stahlbrode sind die Entscheidungen aus dem fernen Brüssel allgegenwärtig: Die EU - bestrebt, die Fischerei an den natürlichen Ressourcen in Meeren auszurichten - bestimmt über Maschenweiten, Fangmengen, Kutterausrüstung und Dokumentation. Seit 2008 wurde die Heringsquote der Stahlbroder Fischer um zwei Drittel auf 125 Tonnen gekürzt. Getroffen habe die ostseeweite Quotenreduzierung vor allem die kleine traditionelle Küstenfischerei mit ihren Stellnetzen, ist Schütze überzeugt. "Wenn es eine nachhaltige Fischerei gibt, dann sind es doch wir." Der Kutter STA 005 ist so alt wie Schütze selbst, aus Holz gebaut. Handwerk - wie die Fischerei.

Mit der Fischereireform will die EU ab 2013 die nachhaltige Fischerei stärken und den Quotenhandel einführen, verkündete EU-Kommissarin Maria Damanaki vor einigen Wochen. "Ein Irrsinn", findet Schütze und schaut auf den Strelasund, wo ein leichter Wind die Wellen zum Kräuseln bringt. Der Quotenhandel werde die reichen Großen weiter stärken und die Kleinen sterben lassen. "Was ist daran nachhaltig?" Würden Beifänge auf die Quote angerechnet, lohne sich die Fischerei kaum noch.

 

Mit elf Fischern gehört die Genossenschaft in Stahlbrode mittlerweile zu den Großen in Mecklenburg-Vorpommern. Das Bruttogehalt der Fischer liegt bei 11.000 Euro pro Jahr, sagt Schütze. Früher warfen 27 Fischer in Stahlbrode ihre Netze aus und konnten gut davon leben. Das ist mehr als 20 Jahre her.

"Deutschland ist keine Fischereination. Deshalb haben wir im Gegensatz zu Spanien keine Lobby in der EU." Dass der Schutz des fischfressenden Kormorans mehr wert sein soll als die Existenz des Fischers, kann Schütze nicht verstehen. Von der Landespolitik fühlen sich die Küstenfischer verlassen. Große Bauchschmerzen haben die Fischer mit den Bestrebungen des Bundesamtes für Naturschutz, Fangverbote in Meeresschutzgebieten außerhalb der 12-Seemeilen-Zone auszuweisen. Das werde den Druck auf die Küstengewässer erhöhen, sagt Schütze. Bei den existenziellen Problemen - wie die Fangmengen - hat das Land kein Mitwirkungsrecht. "Und wenn es eingreifen darf, werden EU-Regelungen besonders scharf ausgelegt wie beim Strafkatalog nach Verstößen", kritisiert Schütze.

Er und seine rund 300 Berufskollegen richten ihre Hoffnungen auf den EU-Abgeordneten Werner Kuhn aus Zingst - den einzigen Europa-Parlamentarier aus Mecklenburg-Vorpommern: Keiner ist den existenziellen Entscheidungen der Fischerei so nahe wie er. Kuhn arbeitet im Fischereiausschuss. Der Fischer baut darauf, dass Kuhn Mehrheiten für die Belange der hiesigen Fischer organisieren kann. Sicher ist er sich nicht. "Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt".

Der Politiker: "Mehrheiten zu finden, ist nicht einfach"

Werner Kuhn, einer von 736 EU-Abgeordneten, ballt seine Hand zu seiner Faust. Seine Stimme füllt den nüchternen Beratungssaal, der zwischen den Büros der Abgeordneten im Straßburger Parlamentsgebäude liegt. Wenn der Zingster Werner Kuhn (CDU) über Fangmengen, Kormorane und Meeresschutzgebiete redet, gerät er in Rage und wechselt im vielsprachigen Parlament schnell ins pommersche Platt. "Dat givt dat mit mi nich", sagt Kuhn, der als Christdemokrat zur Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) gehört. "Die handwerkliche Fischerei muss an den jeweiligen Küsten bestehen bleiben." Den Reformvorschlag von EU-Fischereikommissarin Maria Damanaki hält Kuhn für unausgegoren: Beifänge sollten nicht pauschal in die Quotenberechnung einfließen.

"Mehrheiten zu finden, ist nicht einfach", weiß Kuhn nach zwei Jahren im Fischereiausschuss. Parteiinteressen spielten eine eher nachgeordnete Rolle. Länderinteressen dominieren. Im EU-Fischereiausschuss, der mit 46 Abgeordneten zu den kleineren der 21 Ausschüsse gehört, ist Deutschland mit drei Parlamentariern vertreten, Spanien mit acht. Die Prioritäten sind klar gesetzt. Deutschland verfügt nur noch über drei Prozent der europäischen Fangflotte und nur neun Prozent der Quote. Das EU-Parlament kann in den nächsten Wochen Änderungen an dem Reformvorschlag beschließen. "Mit möglichst großer Mehrheit, um eine stabile Position gegenüber dem Europäischen Rat und Kommission zu haben", gibt Kuhn sein Ziel vor.

Er spricht von strategischen Allianzen, die die Mitgliedsländer in den Ausschüssen eingehen, um sich Mehrheiten zu organisieren. Im Fischereiausschuss sind es für die Deutschen die Franzosen, die im Gegensatz zu Spanien das Prinzip der relativen Stabilität - die Aufteilung der Fangquoten auf Mittelmeer, Atlantik und Nordsee - beibehalten wollen. Das wichtigste Werkzeug eines Politikers ist seine Überzeugungskraft. "Manchmal geht es zu wie auf einem Basar", sagt Kuhn mit einem verschmitzten Lächeln.

Brückenbauer von Brüssel nach Stahlbrode

Seit seiner Wahl ins EU-Abgeordnetenhaus im September 2009 hat Kuhn, der auch im Verkehrsausschuss tätig ist, eine rechnerische parlamentarische Ausbeute von sieben Anfragen, 14 Wortmeldungen, einem Entschließungsantrag zur "Krise im Fischereisektor infolge steigender Ölpreise" und zwei Stellungnahmen aufzuweisen. Will ein Abgeordneter vor dem Parlament sprechen, muss er sein Rederecht im Regelfall über die Fraktion beantragen. Will er sich spontan zu Wort melden, ist seine Redezeit auf eine Minute begrenzt. Am 25. Februar 2010 ergriff Kuhn das Wort, sprach vor den Parlamentariern von den kleinen Fischereinationen, warnte vor überzogenem Artenschutz und warb für den Schutz der traditionellen handwerklichen Fischerei, die erhalten werden müsse. Nach gut einer Minute wurde ihm das Wort entzogen.

Der Kalender des Christdemokraten ist vollgepackt mit Terminen: Allein an diesem Tag im Straßburger Parlament muss Kuhn als Berichterstatter die Standpunkte seiner Fraktion im Verkehrsausschuss zur Liberalisierung des Bahnverkehrsnetzes vortragen. Am Mittag entscheiden er und seine Abgeordnetenkollegen allein über 26 Anträge: von öffentlich unterstützten Exportkrediten bis zu Abkommen der EU mit Brasilien über die Sicherheit der Zivilluftfahrt. Arbeit im Staccato-Tempo, die, wenn man sie sorgsam macht, das menschliche Maß überschreitet. "Man kann nicht alles lesen", sagt Kuhn. In der Regel folge man der Empfehlung des Abgeordneten der Fraktion, der in den Ausschüssen sitzt. "Dafür haben wir die Fachpolitiker."

Auf der letzten Sitzung des Fischereiausschusses standen die Fischereiabkommen zwischen der EU und der Republik Kap Verde sowie mit Marokko auf der Tagesordnung. Bei diesen großen Themen - Verträgen mit Drittstaaten - seien sich die Nationen schnell einig, erklärt Kuhn. Gehe es um wirkliche Differenzen, helfe nur das Gespräch.

Kuhn versteht sich als Brückenbauer - auch vor Ort in Mecklenburg-Vorpommern. Politik, Wissenschaft und Fischer müssen an einen Tisch. Meeresschutzgebiete zu Fangverbotszonen zu erklären, wie es das Bundesamt für Naturschutz und Umweltverbände wollen, hält Kuhn für einen Fehler und "vorauseilenden Gehorsam". Fangverbotszonen würden den Druck auf die küstennahen Gewässer erhöhen. "Als Abgeordneter werde ich mich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen wehren." In diesem Punkt will Kuhn keine Kompromisse eingehen. Was auch immer Kuhn für seine Heimat erreicht oder nicht - Bernd Schütze in Stahlbrode wird es trotz der gut 1.000 Kilometer Entfernung direkt auf seinem Kutter zu spüren bekommen.

dpa