Es muss wohl Schicksal gewesen sein, dass ausgerechnet der Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie am 11. September 2001 in einem Hotel vis à vis zu den Türmen des World Trade Centers seine Koffer packte. "Zufällig sah ich aus dem Fenster und wunderte mich noch, dass da ein Flugzeug ist. Normalerweise gibt es ja über Manhattan keine Flugzeuge", erzählt Florian Holsboer. "Und dann sah ich, wie das Flugzeug in den Turm hineinrast und explodiert und kurz darauf das zweite."
Zwar ist Holsboer Psychiater, aber zunächst handelte auch er irrational: Er ging zum Friseur und was essen. "Trotzdem habe ich das Erlebnis nicht als traumatisierend empfunden", sagt Holsboer. Er hat keine seelischen oder körperlichen Narben davongetragen. Viele andere Augenzeugen und vor allem Rettungsleute hingegen schon.
Holsboer fragte sich auf dem Rückflug eine Tage später: Hier haben so viele Menschen dasselbe Trauma erlebt – vielleicht ließen sich ihre Narben sogar tief im Körper feststellen, in den Zellen, auf molekularer Ebene? Die Antwort sollte ein recht junges Fach der Biologie geben: die Epigenetik. Der Begriff vereint das Worte Epigenese und Genetik, also die Entwicklung eines Lebewesens und die Grundlagen der Erbinformation.
Epigenetik soll das Bindeglied sein zwischen Umwelteinflüssen und Genen: Sie bestimmt mit, wann welches Gen angeschaltet wird und wann es wieder stumm wird. Dazu docken kleine Moleküle an den DNS-Strang an oder an kleine Perlen, um die sich die Doppelhelix windet. Je nach dem können diese Moleküle dann wie ein Schalter ein Gen an- oder ausschalten. Neben dem genetischen Code aus den Lebensbuchstaben A, C, G und T bilden die Sondermoleküle also einen "zweiten Code".
Gene steuern nicht nur, sondern sie werden auch gesteuert
Schon bald nach 9/11 begann Florian Holsboer mit der Trauma-Forscherin Rachel Yehuda vom Mount Sinai Medical Center in New York eine Studie. Dabei analysierten sie nicht direkt den epigenetischen Code – das wäre damals noch zu aufwändig gewesen –, sondern sie wählten den indirekten Weg. Fünf Jahre lang wurden Menschen beobachtet, die den Anschlag miterlebt hatten: Haben sie eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickelt und wenn ja, wie lange blieben die Symptome?
Schließlich untersuchten sie von 15 Probanden mit PTBS und von 20 Probanden ohne PTBS noch einige Gene genauer. Und siehe da: Rachel Yehuda und Florian Holsboer stießen auf einen alten Bekannten: "Bei den Probanden mit den psychischen Problemen waren bis zu 25 Gene mittels epigenetischer Modifikationen verändert, darunter das Gen mit dem komplizierten Namen FKPB 5. Wenn das nicht aktiv ist, kann der Spiegel des Stresshormons Kortisol nicht mehr gesteuert werden. Deswegen kann der Traumatisierte nicht mehr angemessen auf Stress reagieren. Und das wiederum führt zur Belastungsstörung."
Die Studie hat jedoch noch einen Haken: Woher soll man wissen, dass wirklich der Anschlag die Kerbe in die Erbsubstanz geschlagen hat und so zur Posttraumatischen Belastungsstörung geführt hat? Vielleicht war ja die ungünstige epigenetische Markierung schon vorher da und nur deswegen erkrankten die Versuchsteilnehmer leichter? "Das ist eine exzellente Frage", sagt Rachel Yehuda. Sie hat sich diese natürlich schon selber gestellt – und auch noch keine endgültige Antwort: "Wir verstehen noch nicht ganz, was die Kausalität ist oder besser: wie die Richtung des Zusammenhangs ist."
Studie mit deutschen Soldaten im Afghanistan-Einsatz geplant
Um herauszufinden, was also Henne und was Ei ist, müsste man eine Vorher-Nachher-Studie durchführen. So ließe sich das epigenetische Muster vor und nach einem traumatisierenden Ereignis untersuchen: Wenn sich der epigenetische Code verändert hat, spricht das dafür, dass wirklich das Trauma die Narbe verursacht. Holsboer vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie bereitet gerade solch eine epigenetische Vorher-Nachher-Studie zusammen mit der Berliner Trauma-Ambulanz des Bundesverteidigungsministeriums vor: "Wir werden bei Soldaten, die nach Afghanistan müssen, die Genaktivitäten vor und nach dem Einsatz untersuchen. Dann werden wir prüfen, ob man anhand seiner epigenetischen Signatur schon hätte erkennen können, wie sehr ein Soldat PTBS-gefährdet ist, oder ob sich der epigenetische Code erst im Einsatz verändert hat."
Das Ergebnis dürfte auch für die Pharma-Industrie interessant sein: Holsboer glaubt, dass man in der Zukunft ganz gezielt epigenetisch wirksame Medikamente entwickeln werde, um solche Veränderungen, solche Schalter gar nicht erst entstehen zu lassen. "An unserem Institut hat man ja bereits 2009 herausgefunden, dass einige der im Handel erhältlichen Antidepressiva sehr wohl positiv auf epigenetische Prozesse einwirken können."
Holsboers Kollegin Yehuda hingegen denkt weniger an solch eine "Pille danach": "Die Message, die ich aus der Epigenetik ziehe, ist die Macht der Umgebung. Deswegen macht Epigenetik Psychologen wichtiger statt unwichtiger. Denn wenn die Umwelt ändern kann, wie Gene funktionieren, dann ist eine psychologische Behandlung ja auch ein Umwelteinfluss."
Um zu ermessen, wie wichtig epigenetische Trauma-Forschung zukünftig werden kann, nennt Rachel Yehuda nur eine Zahl: "Man muss bedenken: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung wird irgendwann in seinem Leben mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert."
Franziska Badenschier ist freie Wissenschaftsjournalistin und lebt in Dortmund.