Es war höchste Zeit, als Pro Asyl am 8. September 1986 in Frankfurt am Main gegründet wurde. So waren damals im Aufnahmelager für Flüchtlinge bei Frankfurt von der Hessischen Landesregierung Zelte für die Unterbringung neu ankommender Asylbewerber aufgestellt worden. Sie sollten der Abschreckung dienen und die Botschaft vermitteln: Wir können keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Der Hintergrund für solche und ähnliche Maßnahmen war: Die ursprünglich positive Einstellung gegenüber Flüchtlingen hatte sich seit geraumer Zeit verändert.
Bislang waren Flüchtlinge, vor allem, wenn sie aus dem kommunistischen Machtbereich kamen, willkommen. Galten sie doch als Beweis dafür, dass der freiheitliche Westen den Diktaturen des Ostens überlegen war. Als aber immer mehr Flüchtlinge auch aus den Krisenländern Afrikas und Asiens und nicht zuletzt aus der Türkei in der Bundesrepublik Asyl begehrten, drehte sich der Wind.
Dabei setzte sich in den Köpfen vieler Politiker der Gedanke fest, die Bundesrepublik habe ein zu großzügiges Asylrecht und eine zu üppige Sozialfürsorge. Daraus wurde gefolgert, man müsse das Asylrecht einschränken und alles tun, um Deutschland für Flüchtlinge weniger attraktiv erscheinen zu lassen. So kam es innerhalb weniger Jahre zu Änderungen von Gesetzen und Verordnungen, bis hin zu einem massiven Eingriff in das Grundgesetz. [...]
Die diskriminierende Behandlung von ausländischen Flüchtlingen löste bei unzähligen Bürgerinnen und Bürgern, die durch unmittelbare Kontakte davon Kenntnis erhielten, eine erhebliche Betroffenheit aus. [...] Am Anfang der Kontakte mit Flüchtlingen stand zumeist die Bereitschaft, ihnen bei den Behörden und auf Ämtern mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Gerade der Schutz vor Abschiebungen entwickelte sich dabei als besonderer Schwerpunkt des Einsatzes. [...]
Immer öfter werden nach Ausschöpfung aller rechtlichen Möglichkeiten Formen des sogenannten Kirchenasyls gewährt, das in vielen Fällen erfolgreich ist. Aber gerade ein Kirchenasyl macht deutlich, dass es bei dem Engagement für Flüchtlinge um einen sehr persönlichen Einsatz geht. Es entstehen Bindungen an das Schicksal anderer, ursprünglich fremder Menschen. Freundschaften entstehen mit der Bereitschaft, Mitmenschen in einem schweren, von vielen Leiden bestimmten Kampf um Leben und Menschenwürde zu unterstützen. So entstand eine eindrucksvolle Bürgerrechtsbewegung, und zwar völlig eigenständig und von unten her.
Das Dach auf Bundesebene
Für diese neuartige und vielseitige Bewegung fehlte dann aber über die Länderebene hinaus so etwas wie ein Dach auf Bundesebene. Nicht zuletzt deswegen war Pro Asyl gegründet worden. Es gab zwar schon einige Flüchtlingsräte auf der Landesebene, aber noch keinen bundesweiten Flüchtlingsrat als nationalen Vernetzungsknoten. Hier wollte Pro Asyl provisorisch einspringen, bis von unten herauf über die Länderebene und auf demokratische Weise eine Bundesvertretung der Flüchtlingsinitiativen entstehen würde. [...] Ein großes gegenseitiges Vertrauen machte es möglich, dass Pro Asyl, ohne komplizierte und langwierige Abstimmungsprozesse in die Öffentlichkeit gehen konnte. Die Akzeptanz von Pro Asyl in weiten Teilen der Medienlandschaft und vor allem bei der weiterhin autonom handelnden Basis machten Pro Asyl zu einer wichtigen Stimme für die Anliegen der Flüchtlinge. [...]
Die Flüchtlingssolidarität vor Ort, die Flüchtlingsräte auf Landes- und Pro Asyl auf der Bundesebene wurden Teil der größeren, mittlerweile europäischen und internationalen Menschenrechtsbewegung: Dazu gehörte die Mitarbeit im Europäischen Flüchtlingsrat, die Zusammenarbeit mit dem Forum Menschenrechte, mit dem Deutschen Frauenrat, mit der National Coalition, dem Zusammenschluss von mittlerweile 100 Kinderschutzorganisationen und –initiativen, dem es um die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention ging. Auch die Beteiligung bei der globalisierungskritischen Organisation ATTAC gehörte zum Spektrum intensiv gepflegter Zusammenarbeit. Eine ganz besondere Rolle spielte für Pro Asyl naturgemäß die Kirchenasylbewegung mit ihrem Einsatz gegen unmenschliche Abschiebungen.
Die Demontage des Grundrechts auf Asyl
Nach der deutschen Wiedervereinigung kommt es mit Beginn der 90er Jahre zu einer Eskalation fremdenfeindlich motivierter Gewalttaten. Menschen werden auf offener Straße überfallen, Wohnungen von Ausländern und Asylbewerbern in Brand gesteckt. [...] In diesem Klima wird die Diskussion um das Grundrecht auf Asyl in unserer Verfassung immer hitziger. Um die wachsende Zahl von Asylbewerbern zu begrenzen, will die Koalition aus CDU/CSU und FDP das Grundrecht auf Asyl in der Verfassung ändern. [...] Für Pro Asyl durfte und konnte es keine Änderung eines Grund- und Menschenrechts geben. So lauteten auch die Argumente entsprechend: Im Grundgesetz stehen vier Worte wie gemeißelt: "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht". Damit erhielt der staatliche Schutz des Flüchtlings Verfassungsrang. Es war für ihn ein individuelles Grundrecht, das er bis zum Bundesverfassungsgericht einklagen konnte. [...]
Die Eltern des Grundgesetzes haben seinerzeit mit diesem Artikel eine moralische Konsequenz aus der nationalsozialistischen Diktatur ziehen wollen. Es war eine Art Dank an die Völkergemeinschaft für die Aufnahme Hunderttausender Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland. Gleichzeitig war es aber auch die endgültige Absage an Diktatur, Diskriminierung, Folter, Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung von Menschen in Deutschland. Letztlich war es ein Protest gegen jedwede Gewaltherrschaft, wo immer sie in der Welt künftig auch ausgeübt werden sollte. Die Bundesrepublik hat mit diesem Artikel in Sachen Menschenrechte einen neuen Standard gesetzt. Der Staat sieht sich nicht nur im Sinne internationaler Menschenrechtskonventionen verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen und zu schützen. Er gestaltet ihre Aufnahme zu einem Recht, das mit allen Rechtsweggarantien versehen ist. [...]
Dann kommt der 26. Mai 1993, der Tag der Grundgesetzänderung. [...] Wichtigste Konsequenz der Änderung des Asylrechts ist der Verlust des grundgesetzlichen Asylschutzes für Flüchtlinge, die auf dem Landwege über ein Nachbarland einreisen. Sie werden zu "sicheren Drittstaaten" erklärt, in denen ein politischer Flüchtling auf Grund der Genfer Flüchtlingskonvention grundsätzlich bereits ausreichenden Schutz genießen kann. Die Hoffnung, das Bundesverfassungsgericht könne diese Grundgesetzänderung für ungültig erklären, erfüllte sich nicht. Am 14. Mai 1996 stellte es fest, dass mit der Änderung der Verfassung die Garantie eines Grundrechts auf Asyl für politisch Verfolgte aufrechterhalten worden sei. Gleichzeitig sei aber auch eine Grundlage für eine europäische Gesamtregelung geschaffen worden.
Im Schatten der Grundgesetzänderung wurde aber auch das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz verabschiedet. Während bisher die Leistungen der Sozialhilfe für Asylbewerber durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt waren, wird nun für diesen Personenkreis ein eigenes Gesetz geschaffen. Dabei ist eine deutliche Absenkung der bisherigen Leistungen für Asylbewerber vorgesehen. [...]
Aktionsfeld Europa
Aber nicht genug mit den Veränderungen des Asylschutzes in Deutschland. Die Bundesregierung konzentriert sich jetzt auf weitere Einschränkungen im Rahmen der Europäischen Union. Damit stellt sich auch für Pro Asyl die Aufgabe, den eigenen Blick stärker auf Europa zu richten. Das geschieht vor allem durch die Mitarbeit im Europäischen Flüchtlingsrat (ECRE). [...] Die Zusammenarbeit von Pro Asyl mit ECRE hat nicht nur den eigenen Horizont und den der Asylinitiativen nachhaltig verändert, sondern im Grunde auch das Wirkungsfeld für Kampagnen und Initiativen bis an die Grenzen der Europäischen Union und darüber hinaus erweitert.
In diesem Zusammenhang spielte das Schengener Abkommen von 1985 eine entscheidende Rolle. Zentrales Anliegen war die Schaffung eines Europas ohne Binnengrenzen. Dass dies gelang, war sicher ein großer politischer Erfolg. Bei der Feier von 25 Jahre Schengen im vergangenen Jahr machte Pro Asyl allerdings auch auf die hässliche Kehrseite der Freizügigkeit im Schengenland, das mittlerweile 25 europäische Staaten umfasst, aufmerksam. Die Freizügigkeit ist teuer erkauft worden. Schengen war nicht die Geburtsstunde zur Öffnung der Binnengrenzen Europas, sondern der Startschuss zum Ausbau verschärfter Abschottung an den Außengrenzen. [...]
Schengen steht nämlich auch für die Einführung des Visumzwangs für inzwischen 135 Länder. [...] Schengen bedeutet die nahezu lückenlose High Tech-Überwachung an den europäischen Außengrenzen und den Export von Abschottungstechnologien in die Nachbarregionen, um Flüchtlinge bereits weit vor Europas Grenzen zu stoppen. Die europäischen Abwehrmaßnahmen finden heute bereits in internationalen Gewässern im Mittelmeer und im Atlantik statt. Tausende Bootsflüchtlinge wurden seit 2006 von EU-Mitgliedstaaten gemeinsam mit der europäischen Grenzagentur FRONTEX völkerrechtswidrig abgefangen und zurückverfrachtet in west- und nordafrikanische Transitstaaten.
Das Desaster von Nordafrika
(…) Bei einem kürzlichen Rundfunkgespräch im Deutschlandfunk setzte sich der Europareferent von Pro Asyl, Karl Kopp, mit der Seeblockade der EU im Mittelmeer gegenüber Flüchtlingen aus Nordafrika auseinander. Kopp fragte: Wieso wird heute nicht jedes seeuntaugliche Boot, das etwa in Libyen mit Flüchtlingen startet, als in Seenot befindlich eingestuft? [...] Wieso müssen Überlebende berichten, dass Militär- und Zivilschiffe vorbeigefahren sind, weggeschaut haben und keine Rettung eingeleitet haben? Kopp, selbst über 20 Jahre im Flüchtlingsbereich tätig, konnte es sich bislang nicht vorstellen, dass man Menschen wochenlang auf dem Mittelmeer treiben, sie verdursten und sterben lässt, ohne einen Rettungsversuch zu machen. Kopp betrachtet dies als den größten Menschenrechtsskandal in der europäischen Flüchtlingspolitik. [...]
Die Frage, ob eine andere Flüchtlingspolitik nicht nach einer besseren Entwicklungspolitik ruft, zeigt einer Flüchtlingsorganisation wie Pro Asyl die Grenzen ihres Einflusses. Resigniert stellt Karl Kopp in dem Interview fest: Alle bisherigen Konzepte der EU seien gescheitert, sie hätten nur zu einem moralischen Bankrott geführt. Man habe die Diktatoren wie etwa Gaddafi unterstützt, habe ihnen viel Geld in die Hand gegeben für Flucht- und Migrationskontrolle, und habe sich dabei nicht um die Menschenrechte gekümmert.
Für Pro Asyl gibt es nach 25 Jahren keinen Grund zu jubilieren. Die Europäische Union lässt Flüchtlinge im Mittelmeer, aber auch im Atlantik versinken und versenkt damit die Grundlagen einer Gemeinschaft, die sich den Menschenrechten verpflichtet fühlt. Pro Asyl ist es über ein Vierteljahrhundert hinweg nicht gelungen, sich gleichsam überflüssig zu machen. Damit besteht für die bundesweite Arbeitsgemeinschaft und die mit Flüchtlingen solidarischen Menschen und Organisationen aller Grund, weiterzumachen, und zwar auf unabsehbare Zeit.
Herbert Leuninger ist Pfarrer, Gründungsmitglied und langjähriger Sprecher von Pro Asyl. Dieser Text ist eine gekürzte Fassung seiner Erinnerungen an die Gründungszeit und zuerst in der September-Ausgabe des "Forums Migration" erschienen, wo auch die ungekürzte Fassung dieses Textes zu finden ist.