Ibrahim trifft Abraham: "Sie sind gar nicht so schlecht"
"Ey, du Jude" – "Ey, du Moslem": Ausdrücke wie diese haben Einzug gehalten auf deutschen Schulhöfen. Damit so etwas nicht zur Regel wird, hat der Verein "Aktion Gemeinwesen und Beratung" in Düsseldorf das Projekt "Ibrahim trifft Abraham" gegründet. Das Modellprojekt soll demnächst über die Stadtgrenzen hinaus angeboten werden.
07.09.2011
Von Thomas Becker

Auf einmal platzt es aus ihm heraus. Karim, 16 Jahre alt, hat schon zwei Stunden an der Führung durch die Düsseldorfer Synagoge teilgenommen. Gerade hat er erfahren, dass jüdische Jungen nach der Geburt beschnitten werden – oft von muslimischen Beschneidern, jedenfalls in Deutschland. Karim ist völlig überrascht, kann es nicht glauben. "Ich habe gehört, dass Juden schlechte Menschen sind", sagt er leise. Freunde hätten ihm das erzählt, Gleichaltrige. Und auch Videos des radikalen Islampredigers Pierre Vogel habe er im Internet gesehen. Persönlich, räumt Karim ein, habe er allerdings noch keinen Juden getroffen.

Damit sich das ändert, hat der Düsseldorfer Verein "Aktion Gemeinwesen und Beratung" (AGB) das Projekt "Ibrahim trifft Abraham" ins Leben gerufen. Es richtet sich an Jugendliche aus bildungsfernen Familien, die etwas über die drei abrahamitischen Religionen lernen möchten. Die Gruppe hat bereits die Duisburger Merkez-Moschee und den Kölner Dom besucht. Zum Abschluss der dreimonatigen Phase des Modellprojekts steht heute der Ausflug in ein Gotteshaus der dritten abrahamitischen Religion an: in eine Synagoge. Hier sollen die Jugendlichen mehr über die jüdische Lebenswelt erfahren – auch, um Vorurteile abzubauen.

Persönliche Kontakte wichtig

"Antisemitismus ist ein Problem bei Jugendlichen, nicht nur bei einer spezifischen Gruppe", sagt der Islamwissenschafter Michael Kiefer, Projektleiter bei der AGB. Antisemitische Äußerungen muslimischer Jugendlicher seien oft politisch motiviert, was ihrer Sicht auf den Nahostkonflikt geschuldet sei. Häufig fußten die Aussagen auch auf Vorurteilen oder Gerüchten, die Jugendliche – auch Deutsche – ungefiltert herausposaunten. "Ohne zu wissen, was sie da genau sagen."

Aus der Forschung sei bekannt, dass sich zwei Strategien bewährt hätten, um gegen Vorurteile vorzugehen, sagt Islamwissenschaftler Kiefer. Erstens: persönliche Kontakte zu Menschen aufzubauen, gegenüber denen Vorurteile bestehen. Und zweitens: sich über die fremde Lebenswelt zu informieren. Bildung und Begegnung – so lautet also die Maxime. Nachholbedarf gebe es hier gerade bei Jugendlichen aus bildungsfernen Milieus, die in der Jugendarbeit insgesamt zu kurz kämen. "Der Dialog zwischen verschiedenen Religionen und Weltanschauungen ist bisher ein Hochglanzformat für die eher Intellektuellen", sagt Kiefer.

Deswegen fährt er auch nicht mit Gymnasiasten, sondern mit jungen Männern, die sich gerade auf eine Ausbildung vorbereiten, in die Synagoge. Sechs junge Männer hatten sich zur freiwilligen Exkursion angemeldet. Erschienen sind an diesem Vormittag aber nur drei von ihnen. Die anderen sind nicht gekommen. Abgemeldet haben sie sich auch nicht.

Koscherer Wein, koschere Tinte

In der Synagoge eingetroffen, trifft die Gruppe auf Shochàna Rosén, eine Jüdin, die seit vielen Jahren Mitglied der Düsseldorfer Gemeinde ist. Sie nimmt sich viel Zeit für die Führung, trägt den Jugendlichen Gebete und Gedichte vor, erklärt die Bedeutung von koscherem Wein und koscherer Tinte, der Menora und des 18-Bitten-Gebetes. Auch auf die düsteren Kapitel der Geschichte kommt sie zu sprechen: auf Judenpogrome und den Holocaust. Eindringlich weist sie deswegen darauf hin, wie wichtig es ist, anderen Menschen ohne Hass, Aggression und Vorurteile zu begegnen.

Die Neue Synagoge in Düsseldorf. Foto: Wiegels/Wikipedia

Für Shoshàna Rosén bietet die Thora dazu eine gute Grundlage. "Im Mittelpunkt aller Lehren der Thora", erläutert sie, "steht immer und ausschließlich der Mensch." Sie verweist auf den Rabbiner Hillel, der zu Zeiten Jesu gelebt hat und bis heute als sehr einflussreich gilt. "Hillel sagte: Tu deinem Nächsten nicht an, was du nicht möchtest, dass man dir antut. Er sagte: Das ist die ganze Thora. Der Rest ist Nebensache." Im Alltag sei es allerdings schwierig, sich stets an das Gebot Gottes zu halten. "Der Mensch hat beides: das Gute und das Böse", sagt sie. "Deswegen ist das nicht so einfach."

Um sich das moralische Gebot Gottes tagtäglich zu vergegenwärtigen, trägt Shoshàna Rosén stets ein Gebet bei sich. Sie reicht es Michael Kiefer und bittet ihn, es vorzulesen. "Mein Gott, bewahre meine Zunge vor Bösem und meine Lippen vor trügerischer Rede", schallt seine Stimme durch die Synagoge. "Flucht man mich, so möge meine Seele schweigen, meine Seele sei allem gegenüber wie Staub."

"Bewahre meine Zunge vor Bösem"

Die Jugendlichen hören aufmerksam zu. Und damit sie selbst einen Eindruck davon bekommen, wie Juden beten, bittet Shoshàna Rosén sie, Gebetsriemen anzulegen – sogenannte Tefillin. "Die Gebetsriemen sollen dir Kraft geben, bevor du zur Schule oder zur Arbeit gehst", sagt Shoshàna Rosén zu Karim. Der Glaube und die Religion – auch die muslimische oder christliche – seien eine große Hilfe, um Aggressionen und Vorurteile im Zaum zu halten. Diesen Gedanken gibt Shoshàna Rosén Karim und den anderen mit auf den Weg.

Am Ende dürfen die Jugendlichen in den Schofar - das Widderhorn - blasen, der normalerweise nur an jüdischen Feiertagen zu hören ist. Danach legen sie die Gebetsriemen wieder ab, mit denen sie für kurze Zeit wie Juden ausgesehen haben. Der Besuch ist zu Ende. Zeit, Bilanz zu ziehen. "Die Führung hat mir gut gefallen", sagt Karim als er wieder vor der Synagoge steht. Er habe vieles gelernt, etwa, dass es nicht so einfach ist, Jude zu werden und dass und man dazu beinahe ein Theologiestudium braucht. "Ich würde sagen, dass sie gar nicht so schlecht sind", lautet sein abschließendes Resümee. Auch Michael Kiefer ist zufrieden. "Ich denke, dass der heutige Tag ein guter Schritt gegen Vorurteile gewesen ist, und das ist vielleicht der größte Gewinn."

Demnächst werden die Ergebnisse des Projektes ausgewertet. Im Oktober beginnt eine zweite Projektphase für Jugendliche aus ganz Düsseldorf. Danach soll es ähnliche Angebote auch in anderen Städten Nordrhein-Westfalens geben.


Thomas Becker ist freier Journalist und lebt in Düsseldorf.