Wahlrecht konfus: Mehr Sitze für weniger Stimmen
Das Wahlrecht auf Bundesebene ist grundgesetzwidrig. Das stellte das Bundesverfassungsgericht bereits im Jahr 2008 fest. Schuld ist der paradoxe Effekt, dass Parteien unter bestimmten Voraussetzungen für weniger Stimmen mehr Sitze bekommen. Das Parlament hatte drei Jahre Zeit für eine Neuregelung. Die sind jetzt vorbei. Wenn sich die Bundestagsfraktionen nicht bald einigen, riskieren sie die Annulierung der nächsten Wahl.
05.09.2011
Von Bernd Buchner

Wann gibt es das schon mal: Eine Partei ruft dazu auf, die Konkurrenz zu wählen. So geschehen bei der Bundestagswahl 2005, als in Dresden wegen des Todes eines Direktkandidaten eine Nachwahl erforderlich wurde. Die CDU musste bei den Zweitstimmen unter einem Ergebnis von 41.225 bleiben, um am Ende einen Sitz mehr im Bundestag zu erhalten. Also signalisierten die Christdemokraten den eigenen Anhängern diskret, ihr Kreuzchen ruhig bei einer anderen Partei zu machen. Und hatten Erfolg damit.

Mehr Sitze im Parlament für weniger Stimmen vom Volk? Das deutsche Wahlrecht macht's möglich – wenn auch nur in extremen und seltenen Ausnahmefällen. In der Bundesrepublik wird nach dem sogenannten personalisierten Verhältniswahlrecht gewählt, einer Mischform von Mehrheits- und Verhältniswahl. Jeder Bürger hat zwei Stimmen, eine für den Direktkandidaten vor Ort und eine zweite für eine Partei. Diese Zweitstimme ist die wichtigere; mit ihr entscheidet sich am Ende auch, wer nächster Bundeskanzler – oder nächste Bundeskanzlerin - wird.

Verrechnung zwischen den Bundesländern

In Dresden war nun folgendes passiert. Die CDU hatte in Sachsen eine Reihe von Überhangmandaten gewonnen; sie entstehen, wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Diese Mandate darf sie behalten. Hätten die Christdemokraten nun über die Zweitstimmen einen weiteren Parlamentssitz erobert, hätte der ihnen auf sächsischer Ebene wegen der Überhangmandate nichts genutzt – in einem anderen Bundesland hätte die CDU dafür aber einen Sitz eingebüßt. Denn die Mandate für eine Partei werden zwischen den 16 Ländern miteinander verrechnet.

Da das sogenannte "negative Stimmgewicht" zu taktischem und damit verfälschendem Wahlverhalten anstiftet, rief der Effekt das Bundesverfassungsgericht auf den Plan. Die Karlsruher Richter erklärten das bisher geltende Wahlrecht im Jahr 2008 für grundgesetzwidrig. Der Wählerwille könne durch die bestehenden Regelungen "ins Gegenteil verkehrt" werden, sagte der Vizepräsident des Gerichts, Andreas Voßkuhle. Der Politik wurde eine dreijährige Frist eingeräumt, um Abhilfe zu schaffen. So konnte die Bundestagswahl 2009 letztmalig mit dem beanstandeten alten Wahlrecht über die Bühne gehen.

Doch die Frist lief Ende Juni dieses Jahres aus, und noch immer gibt es keine neue Regelung. Denn, wie so oft, die schwarz-gelbe Bundesregierung kann sich nicht einigen, etwa auf den Ausgleich der Überhangmandate oder auf eine neue Verrechnung von Direkt- und Listenplätzen im Parlament. Die Opposition spricht von einer "beispiellosen Respektlosigkeit" gegenüber dem Verfassungsgericht, Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) kritisiert, die Situation sei "ärgerlich und peinlich". Ex-Verfassungsrichter Dieter Grimm warnt gar vor einer Annulierung der nächsten Bundestagwahl 2013 und einer echten Staatskrise.

Erde an Fraktionen: Einigt euch!

Zwar liegen inzwischen vier Gesetzentwürfe vor, doch von einer Lösung ist der Bundestag noch weit entfernt. Nun haben Fachleute die Politik und vor allem die Fraktionen nochmals gründlich ins Gebet genommen – und sie vor allem zur Einigkeit ermahnt. Ein mangelnder Konsens bei Wahlsystemfragen entziehe dem "demokratischen Gemeinwesen die Gewissheit seiner Legitimation", sagte der Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim am Montag bei einer Anhörung des Bundestags-Innenausschusses. "Versuchen Sie sich zu einigen", ergänzte die Frankfurter Professorin Ute Sacksofsky.

Die renommierte Rechtswissenschaftlerin machte deutlich, wie prekär die Situation wäre, wenn es in den nächsten Monaten zu vorgezogenen Neuwahlen käme – was angesichts des Zustandes der Koalition von Union und FDP unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) nicht ganz ausgeschlossen erscheint. Auf die Frage des Grünen-Rechtspolitikers Wolfgang Wieland, was in einem solchen Fall geschehe, sagte Sacksofsky: "Dann haben Sie in der Tat ein Problem." Der Zustand, dass kein verfassungskonformes Wahlrecht vorliege, müsse schnell beendet werden.

Aber wie schnell kann das gehen? Die Gesetzesentwürfe der Opposition und die Pläne der Koalition liegen noch weit auseinander. Der Vorschlag der SPD, Ausgleichsmandate zu schaffen, würde das umstrittene negative Stimmgewicht nicht ganz beseitigen. Schwarz-Gelb will lieber die bisherige Verbindung von Landeslisten abschaffen; aber auch das hätte Nachteile, eine entsprechende Neuregelung würde das Wahlrecht weiter komplizieren statt vereinfachen. Und je einfacher die Bestimmungen, desto höher dürfte die Wahlbeteiligung sein.

mit Material von dpa

Bernd Buchner ist Redakteur bei evangelisch.de und zuständig für das Ressort Kirche + Religion.