"Mein eigen Fleisch und Blut", 9. September, 20.15 Uhr auf Arte
Anders als in der Musik muss die Ouvertüre eines Films nicht automatisch die folgende Handlung prägen. In diesem Fall ist das auch gut so, denn der Prolog ist völlig irreführend. Zu Beginn feiern zwei Paare einen vierzigsten Geburtstag, was vor allem Hauptdarstellerin Veronica Ferres schmeichelt, denn die ist bereits 46. Ein Alter, in dem man keine Kinder mehr bekommen muss, aber noch kann; vermutlich wollte man mit dem kleinen Besetzungsschwindel einfach auf Nummer sicher gehen. Thema des Vierergesprächs ist das Kinderkriegen, und während man sich noch fragt, welche Rolle das immerhin von Herbert Knaup und Katharina Müller-Elmau verkörperte zweite Pärchen in dieser Geschichte spielen wird, ist es schon aus dem Film verschwunden. Kurz drauf ergeht es dem Lebensgefährten von Hauptfigur Franziska nicht anders: August Zirner darf seinen Kinderwunsch vortragen und abtreten.
Kampf einer Mutter um ihr Kind
Fortan lastet die Handlung also zunächst allein auf Ferres’ Schultern, was beiden nicht gut tut, denn wann immer es emotional wird, stößt die Hauptdarstellerin an ihre bekannten Grenzen. Zum Glück hat sie bald kaum noch Zeit, ihren Gefühlen künstlich schluchzend freien Lauf zu lassen, denn es wird ernst: Franziska hat so brüsk auf das Kinderthema reagiert, weil sie einst mit 15 schwanger geworden ist und das Baby gleich nach der Geburt zur Adoption freigeben musste; nicht ohne zuvor noch tüchtig vom trunksüchtigen und gewalttätigen Vater traumatisiert zu werden. Nun kehrt sie zu ihren Wurzeln nach Rosenheim zurück, um ihren Sohn Oliver (Kostja Ullmann) kennen zu lernen. Schockiert muss sie feststellen, dass der junge Mann zwar ein schmucker Bursche, aber heroinabhängig ist.
Der Film ist immer dann am besten, wenn sich Buch (Britta Stöckle) und Regie (Vivian Naefe) auf den Kampf einer Mutter um ihr Kind konzentrieren. Oliver versucht sich Franziska und vor allem seiner Freundin Sandy (Sonja Gerhardt) zuliebe unter Blut, Schweiß und Tränen erneut an einem Entzug, und für einen Moment sieht es so aus, als sei Franziska gerade noch rechtzeitig gekommen.
Im Grunde erzählen Stöckle und Naefe die größere Geschichte im Hintergrund, auch wenn es etwas schlicht anmutet, dass das Drehbuch Franziskas Eltern die Schuld am Schicksal des Enkels zuweist. Olivers Sucht und ein Gewaltausbruch, als er seine Freundin schlägt, deuten zudem direkt auf den Großvater; aber erzählt ist das gut. Ähnlich wenig Worte braucht der Film für eine weitere Ebene, als Franziska ihre Jugendliebe (Thomas Sarbacher) um Hilfe bittet. Der hat längst eine eigene Familie, ist ihr aber offenkundig immer noch innig zugetan. Während Olivers Kampf gegen die Drogen vor allem dank des Maskenbilds authentisch wirkt, überzeugt die Handlung im Hintergrund, weil Gundi Ellert und Johann Adam Oest als Großeltern dank ihrer darstellerischen Qualität nur wenige Szenen benötigen, um die ganze Tragweite dieses Generationskonflikts auszuloten. Seltsam nur, dass Franziskas Vater zum Streik greift, um sich das Leben zu nehmen; da hätten ihm als Apotheker todsicher wirkungsvollere Mittel zur Verfügung gestanden.
Der Autor unserer TV-Tipps, Tilmann P. Gangloff, setzt sich seit über 20 Jahren als freiberuflicher Medienkritiker unter anderem für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Gangloff (geb. 1959) ist Diplom-Journalist, Rheinländer, Vater von drei Kindern und lebt am Bodensee. Er gehört seit Beginn der 1990er Jahre regelmäßig der Jury für den Adolf-Grimme-Preis an und ist ständiges Mitglied der Jury Kinderprogramme beim Robert-Geisendörfer-Preis, dem Medienpreis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).