Wie Gott ins Weltgeschehen eingreift, bleibt sein Geheimnis
Fragwürdige Tradition: In den USA gehört es zum politischen Repertoire, das angebliche Wirken Gottes auf Erden für allzu menschliche Zwecke einzuspannen. Als der Hurrikan "Katrina" vor sechs Jahren New Orleans überschwemmte, war schnell von einer Strafe des Allmächtigen die Rede. Nun zog Wirbelsturm "Irene" durchs Land, und prompt holten konservative Wahlkämpfer wieder das Bild vom Fingerzeig Gottes aus der Kiste. Eine Entgegnung aus theologischer Sicht.
31.08.2011
Von Anne Kampf und Bernd Buchner

Schickt Gott Wirbelstürme und Erdbeben, um die Menschen wachzurütteln? Nach Ansicht von Michele Bachmann, die für die Republikaner ins Rennen um die US-Präsidentschaft gehen will: Ja. Die Ikone der populistischen Tea-Party-Bewegung aus Minnesota sagte bei einer Wahlkampfveranstaltung: "Ich weiß nicht, was Gott noch alles tun muss, um die Aufmerksamkeit der Politiker zu bekommen. Wir hatten ein Erdbeben, und wir hatten einen Hurrikan. Gott sagte: Hört ihr mir endlich zu?"

Foto links: Michelle Bachmann. Foto: dpa/Cj Gunther

Sollte die ultrakonservative 55-Jährige mit evangelisch-lutherischem Hintergrund das ernst gemeint haben, wäre sie religionsphilosophisch gesehen als Theistin zu bezeichnen. Theisten sehen Gott als personalen, allmächtigen Schöpfer und Erhalter der Welt. Er beherrscht und ordnet alles, nichts auf Erden geschieht zufällig. In den biblischen Schriften und Erzählungen gibt es eine Fülle von Anknüpfungspunkten für diese Interpretation (zum Beispiel die Sintflut in 1. Mose, die Plagen in Ägypten in 2. Mose 7-12, die Teilung des Roten Meeres in 2. Mose 14, Daniel in der Löwengrube in Daniel 6, das Pfingstwunder in Apostelgeschichte 2).

Verbindung zur Welt bleibt bestehen

Der Begriff "Theismus" wurde in der europäischen Aufklärung entwickelt, als man zu klären versuchte: Braucht der Mensch einen Gott? Gibt es ihn überhaupt? Wofür ist Gott zuständig? Und wofür ist der vernunftbegabte Mensch selbst verantwortlich? In der Auseinandersetzung mit dem Atheismus griffen die Gläubigen auf Vernunftargumente zurück, anstatt schlicht zu behaupten, Gott gebe sich durch Offenbarung zu erkennen. Nach dem theistischen Erklärungsmodell bleibt Gott mit der Welt in ständiger Verbindung, auch mit den einzelnen Menschen.

Stellt man sich Gott solchermaßen als Weltenlenker vor, ergibt sich folgendes Problem: Wenn er gut und allmächtig ist, warum gibt es das Leid in der Welt? Gottfried Wilhelm Leibniz hat dieses Problem im Jahr 1710 als "Theodizee" bezeichnet. Gott, so der Philosoph, habe die "beste aller möglichen Welten" erschaffen – und in der könne es das Gute ohne das Böse nicht geben. Die Welt ist, wie sie ist, weil Gott sie in ihrer Ambivalenz so gewollt hat.

In der Bibel wird die Theodizee-Frage zum Beispiel im Buch Hiob aufgegriffen: Hiob erfährt unendliches persönliches Leid, verliert Besitz, Familie und Gesundheit. Trotzdem hält er an Gott als seinem Schöpfer fest und ordnet sich ihm unter. Damit erkennt Hiob an, dass Gott der Urheber all dessen ist, was ihm widerfährt. Er versteht auch, dass er das Handeln Gottes nicht verstehen und erklären muss. Sein Schlüsselsatz "Ich weiß, dass mein Erlöser lebt" (Hiob 19,25) drückt aus, dass er trotz des erfahrenen Leids von Gottes Treue und Güte überzeugt ist.

Ein Hurrikan bleibt ein Naturereignis

Nach Michele Bachmanns Theorie benutzt Gott Naturereignisse, um Menschen auf bestimmte Sachverhalte aufmerksam zu machen. Das könnte man vergleichen mit der Gottesschau Hiobs oder der Gottesbegegnung des Mose im brennenden Dornbusch. Doch müsste man hier kritisch fragen, ob die biblischen Berichte nicht Mythologien sind, die für die Identität des Gottesvolkes sinnstiftend wirken. Schärfer formuliert: Diese Ereignisse hat es so nicht gegeben, und sie sind heute erst recht nicht zu erwarten. Ein Hurrikan ist nicht die Stimme Gottes, sondern ein Naturereignis.

Möglich ist nämlich auch die Vorstellung, dass Gott überhaupt nicht ins Weltgeschehen eingreift. Das wäre "Deismus". Diese Gegenposition zum Theismus bildete sich ebenfalls in der Aufklärung. Nach Ansicht der Deisten hat Gott die Welt mitsamt der Naturgesetze erschaffen - beeinflusst aber nicht, was in der Welt weiterhin geschieht. Neben dem, was der Mensch von sich aus als "natürliche Erkenntnis" mittels Vernunft von Gottes Existenz wahrnimmt, bedarf es keiner weiteren Offenbarung. Die Bibel sei nur die Bestätigung der "natürlichen Religion".

Diese Einstellung führt dazu, dass der Deismus mit wesentlichen Grundlagen des Protestantismus unvereinbar ist. Wenn der Mensch auf natürliche Weise religiös ist, braucht er weder eine Heilige Schrift noch einen dreieinigen Gott oder Christus als Erlöser. Besonders kritisierten Deisten die calvinistische Prädestinationslehre – derzufolge vorherbestimmt ist, welche Menschen selig und welche verdammt sind – und überhaupt die Idee von einem Ende der Welt mit einem jüngsten Gericht.

Er ist immer anders, als wir denken

Theisten vom Schlage Michelle Bachmanns, deren "Salem Evangelical Lutheran Church" den Papst noch für den Antichristen hält, stehen eher auf dem Boden der Bibel als Deisten. Recht haben sie dennoch nicht. Gott ist immer anders als die Menschen ihn sich vorstellen. Er begleitet sie, bestimmt aber nicht jeden ihrer Schritte. Seine vermeintliche Allmacht steht der menschlichen Freiheit gegenüber. Und seine Vorsehung, wenn es sie gibt, ist ein Geheimnis. Viele Gläubige würden sicher die Vorstellung bevorzugen, Gott greife in ihr persönliches Leben ein. Der Glaube an jemanden, der "alles im Griff" hat, vermittelt Sicherheit und Geborgenheit.

Jedem einzelnen Christen bleibt es unbenommen, eigene Erlebnisse und Erfahrungen für sich als Eingreifen Gottes zu deuten. "Wahrheit" in der persönlichen Beziehung zu Gott gibt es in diesem Sinne durchaus, und niemand hat das Recht, einer solchen religiösen Erfahrung zu widersprechen. Aber eine letztgültige Wahrheit gibt es nicht. Wenn jemand ein Naturereignis wie einen Wirbelsturm als Fingerzeig Gottes für andere deutet, missbraucht er Gott. Das hat inzwischen auch Frau Bachmann eingesehen – und sucht ihre Äußerungen wieder geradezuziehen. Es sei "absurd und lächerlich" zu glauben, sie gebe vor, die Gedanken Gottes zu kennen. Es habe sich um einen Scherz gehandelt. "Es war humorvoll gemeint, als ich das sagte." Ob Gott darüber lachen kann?


Anne Kampf und Bernd Buchner sind Redakteure bei evangelisch.de.