Lüdemann: "Jesus bedeutet mir religiös nichts mehr"
Der umstrittene evangelische Theologe Gerd Lüdemann (Göttingen) hat nach einem Abschied vom Christentum eine grundlegende Trennung von Theologie und irche gefordert. Die Kirche vertrage sich nicht mit dem wissenschaftlichen Anspruch der Universitätsheologie. Ein Theologieprofessor müsse nicht unbedingt Christ sein, sagte Lüdemann in Göttingen gegenüber epd. (Interview vom 18.3.1998)
31.08.2011
Die Fragen stellte Stephan Cezanne

Haben Sie sich vom Christentum endgültig verabschiedet?

Lüdemann: Ja, eindeutig. Ich habe bis vor kurzem versucht, mit Kompromissen in der Kirche Christ zu bleiben. Dazu gehörte, daß ich die Auferstehung Jesu oder den Großteil der kirchlichen Lehre von Christus bestritt und mehr Gewicht auf den historischen Jesus legte. Ich habe dann auch gleichzeitig die Visionen der Jünger als Ausdruck einer Erfahrung von Ewigkeit, von Leben und von Vergebung interpretiert und damit Anschluß an die kirchliche Lehre gefunden. Das war mein bisheriges liberales Christentum.

Was kritisieren Sie am Christentum?

Lüdemann: Die entsetzlichen Antijudaismen im Neuen Testament waren für mich schon seit langem nicht mehr erträglich. Diese belegen, daß eine Verfälschung Jesu schon im verstärkten Maße im Neuen Testament vorliegt. Das meiste stimmt nicht, was da steht. Jetzt kann ich mich auch nicht mehr an den echten Worten Jesu orientieren, weil sie ein Eingreifen Gottes in der nächsten Zukunft voraussetzten, was sich als Irrtum erwiesen hat. Jesus bedeutet mir religiös daher nichts mehr. Jetzt und nicht am Ende meines Lebens muß ich auch den Schritt vollziehen und als Theologieprofessor sagen: Ich bin kein Christ. Ich habe mich von Jesus verabschiedet. Ich sage das jetzt auch, weil ich mit meinen Studenten nicht weiter ein Verwirrspiel machen will.

Sind sie Atheist?

Lüdemann: Ich bin kein Atheist und ich finde den Atheismus flach. Ich wende mich nur dagegen - und das ist ein ganz wichtiger Punkt, über den viel zu wenig nachgedacht wird - daß wir uns in der Kirche zu einem Gott bekennen, der im Alten Testament, Jesaia 45,5, von sich sagt, "Ich bin der Herr, und sonst keiner mehr, kein Gott ist außer mir". Diese Exklusivität Gottes ist für mich nicht mehr nachvollziehbar. Radikal gedacht führt die historische Bibelkritik zum Abschied vom Christentum. Ich bin vielmehr ein Mystiker, ein mystischer Mensch, aber ich bin kein Christ mehr.

Beten Sie?

Lüdemann: Ich ziehe mit meinem Schritt auch die Konsequenz aus meiner religiösen Praxis. Ich kann das ja auch an den Kindergebeten klarmachen: Ich spreche nach wie vor Gebete, weil diese Gebete, die ich lange gelernt habe, in mir etwas auslösen, zum Beispiel Geborgenheit. Aber ich spreche darin Jesus nicht an, ich spreche auch Gott nicht an, sondern ich spreche Liturgien, und die sind eigentlich auch erweiterbar in Meditationen - dabei kommt es auf den Inhalt eigentlich gar nicht an. Es kommen immer bestimmte Motive wieder, etwa Ruhe, Frieden. Aber das ist nicht genuin christlich.

Verstehen Sie sich noch als evangelischer Theologe?

Lüdemann: Ich verstehe mich als Theologe, nicht als evangelischer Theologe. Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Ich möchte eine vollständige Änderung der Verfassung der theologischen Fakultäten. Ich werde daher die theologische Fakultät nicht freiwillig verlassen. Die bisherige Verfassung der Fakultäten ist nicht mehr zeitgemäß. Sie ließe nämlich auch zu, daß Zeugen Jehovas, wenn sie zum Beispiel als Körperschaft öffentlichen Rechts endgültig anerkannt wären, bei genügender Anzahl von Anhängern auch eine theologische Fakultät erhalten müssten.

Kann es eine Theologie ohne Kirche geben?

Lüdemann: Da wir nun viel mehr andere Religionen haben und in Zukunft in Deutschland haben werden,  ist es an der Zeit, die theologischen Fakultäten umzukrempeln und von der konfessionellen Bindung freizumachen. Es sollten Orte geschaffen werden, wo alle Religionen erforscht werden. Von der Sache her, denke ich, wird das kommen. Die Kirche verträgt sich nicht mit dem wissenschaftlichen Anspruch der Theologie. Ein Theologieprofessor muß nicht Christ sein.

Ist Ihr Abschied vom Christentum auch eine Konsequenz der protestantisch-kritischen Theologie?

Lüdemann: Die Verarbeitung der Forschungsergebnisse der historischen, liberalen Theologie in unserer  radition mußte zu dem führen, was ich jetzt mache. Denn wir entleeren ja völlig die Bibel ihrer Heiligkeit, wir sind bewußt profan und tun ja so, als ob es Gott nicht gäbe. Wir entzaubern die Welt. Wie wollen wir auf der Grundlage dieser Methode wieder zu einem Glauben kommen. Daß wir nicht ausschließlich durch die Vernunft bestimmte Menschen sind, daß es Grenzerfahrungen gibt - wer will denn das bestreiten. Aber es ist etwas anderes, das anzuerkennen, das zu studieren und dann zu sagen, allein in Christus sei das Heil, was ja das Christentum herkömmlich behauptet.

Wollen Sie aus der Kirche austreten?

Lüdemann: Nein. Wenn ich aus der Kirche austräte, könnte man mir das Unterrichten an der theologischen Fakultät verbieten. Genau dies möchte ich vermeiden. Die ganze Angelegenheit soll nicht auf dem Rechtsweg sozusagen zur Seite gelegt werden.

Haben Sie Angst um Ihre Professorenstelle?

Lüdemann: Nein, obwohl es im Kirchenrecht durchaus ein Lehrbeanstandungsverfahren geben könnte. 

epd