Neue Indikatoren für Wohlstand gesucht
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist seit Jahrzehnten die zentrale Kennzahl, um Wachstum und Erfolg einer Volkswirtschaft zu messen. Doch die Schar der BIP-Skeptiker wächst und mit ihnen die Zweifel an der scheinbar unumstößlichen Gleichung "Wachstum = Wohlstand = Lebensqualität".
30.08.2011
Von Verena Mörath

Denn das BIP sagt nichts darüber aus, wie das Wachstum entstanden ist und wie es sich auf Umwelt und Gesellschaft auswirkt. Wirtschaftsleistung und gesellschaftlicher Wohlstand sind zwei paar Schuhe. Eine Enquetekommission des Bundestages soll deshalb neue Maßzahlen erarbeiten.

Wie absurd die Messgröße BIP sein kann, zeigt der US-amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz an einem Beispiel: Stau auf der Autobahn; keiner kommt voran, Ärger, Stress, verlorene Zeit - aber das BIP steigt, denn es wird mehr Benzin verbraucht.

Das BIP steigt, der Wohlfahrtsindex sinkt

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Daniela Kolbe ist die Vorsitzende der 34-köpfigen Enquete-Kommission "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität - Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft". Sie erläutert den Arbeitsauftrag der Kommission aus Abgeordneten und Sachverständigen: "Unser Ziel ist es, bis 2013 einen neuen Indikator für den gesellschaftlichen Fortschritt vorzulegen. Er soll sich einerseits weiterhin auf das BIP stützen, andererseits es um Kriterien wie Arbeitsqualität, Ressourcenverbrauch und Wohlstandsverteilung, Bildungschancen, Gesundheit und Lebenserwartung ergänzen."

Der Wirtschaftsforscher Hans Diefenbacher von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg sagt: "Ökonomisches Wachstum kann nicht automatisch mit einer realen Verbesserung der Lebensbedingungen verbunden werden." Der Ökonom hat im Jahr 2008 mit Roland Zieschank von der FU Berlin ein alternatives Maß entwickelt, den Nationalen Wohlfahrtsindex (NWI). Dieser berücksichtigt im BIP vernachlässigte Wohlfahrtsleistungen wie etwa ehrenamtliche Arbeit, aber auch Umweltschäden und Ressourcenverbrauch, Einkommensverteilung, Ausgaben für Bildung und Gesundheit. Mit erstaunlichem Ergebnis: Das BIP wuchs in Deutschland zwischen 1999 und 2007 um 7,4 Prozent, aber der NWI sank im gleichen Zeitraum um 3,2 Prozent.

Die Zeit sei reif, das BIP durch andere Indikatoren für die wirtschaftliche Entwicklung zu ergänzen, sagt Diefenbacher. Dann könnten qualitative Aspekte wirtschaftlicher Dynamik besser berücksichtigt werden und dadurch Nachhaltigkeitsstrategien neue Impulse bekommen.

Anderer Blick auf Wohlstand und Lebensqualität

Die SPD-Politikerin Kolbe stellt in ihrer Zwischenbilanz fest, dass sich die heterogen zusammengesetzte Expertengruppe des Bundestages inzwischen darin einig sei, dass "der Fokus nicht mehr nur auf ein zahlenmäßiges Wirtschaftswachstum um jeden Preis liegen kann". Alternative Indikatoren zum BIP seien gefragt, denn "die Politik muss sich die Frage stellen, ob die Form des Wirtschaftens so weitergeführt werden kann und definieren, wo Veränderungsbedarf besteht".

Stefan Bergheim vom Zentrum für gesellschaftlichen Fortschritt in Frankfurt am Main begrüßt, "dass wir überhaupt eine solche Kommission haben". Der Gründer der unabhängigen Denkfabrik warnt die Kommissionsmitglieder jedoch davor, "sich in alten Grabenkämpfen zu verlieren".

Norbert Reuter von der Gewerkschaft ver.di, Sachverständiger in der Kommission, kritisiert, dass an den alten Wachstumsmodellen kaum gerüttelt werde. Die Kommission dürfe aber in ihrem Abschlussbericht im Jahr 2013 nicht "hinter den Stand der gesellschaftlichen Debatte zurückzufallen - an deren Spitze sie sich eigentlich befinden soll".

"Die Enquete-Kommission muss sich einen anderen Blick auf Wachstumsprozesse, Wohlstand und Lebensqualität trauen", fordert auch der Ökonom Diefenbacher. Er hat die Erwartung, dass der Abschlussbericht eine Empfehlung für eine amtliche Statistik ausspricht, die neben dem BIP auch Wohlstand und Lebensqualität misst.

epd