"Es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, die die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie dort zurechtweist, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen." (Jesaja 29,20f)
Diese zweieinhalbtausend Jahre alte Prophezeiung Jesajas aus der Bibel ist der in Worte gefasste Traum aller Unterdrückten. Er scheint in Libyen dieser Tage greifbar nahe – zumindest der erste Teil, das Ende der Tyrannen und Spötter. Dass es auch ein Ende haben wird mit allen, die Unheil anrichten wollen und mit aller Rechtsbeugung, ist natürlich ebenso zu wünschen, aber der Weg dorthin dürfte steinig und schwer werden.
Ein künstliches Zweckgebilde
Denn die Aufständischen und Widerstandskämpfer hat bisher vor allem der Kampf gegen die Tyrannen geeint. Doch nach diesem Kampf wird sich erst zeigen, was die einzelnen Gruppen wirklich wollen, ob sie an Demokratie und Rechtstaatlichkeit interessiert sind oder vor allem an ihrem eigenen Wohl und Vorteil. Denn Libyen ist schon vor der Ära Gaddafi ein künstliches Zwangsgebilde gewesen, zusammengefügt aus den drei Provinzen Tripolitanien, Kyrenaika und Fezzan - und in ihnen über 140 verschiedene Stämme, die sich keineswegs immer grün waren und sind.
Der nationale libysche Übergangsrat hat angekündigt, dass es bereits in acht Monaten freie Wahlen in Libyen geben soll. Das ist das richtige Signal, denn es nützt den Schwung des gemeinsam errungenen Sieges. Libyen könnte ein friedlicher Weg in Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gelingen. Es ist dank der reichhaltigen Erdölvorkommen im Prinzip ein reiches Land. Dennoch braucht Libyen anfangs Kredite von außen, damit die Ölförderung bald wieder gut funktioniert und die Erlöse gerecht verteilt werden können. Wenn diese Erlöse schnell breite Bevölkerungsschichten erreichen, sinkt das Konfliktpotential und steigert sich die Erwartung, dass Libyen gemeinsam eine Zukunft hat.
Die internationale Gemeinschaft sollte alles tun, damit Libyen das Schicksal des Balkans in den 90-er Jahren des letzten Jahrhunderts erspart bleibt. Denn die größte Gefahr nach langer Tyrannei sind die Übergangszeiten: Die Menschen sind verunsichert und suchen neue Orientierungen, und diese fallen dann so manches Mal ganz anders aus, als man sich das von außen wünscht und erhofft.
Das Land braucht ein Pfingstwunder
Mitentscheidend wird auch die heikle Frage sein, wie man mit den bisherigen Gaddafi-Anhängern in Militär und Gesellschaft umgeht. Experten warnen davor - wie im Irak - alle regimegetreuen Offiziere zu entlassen. Denn das bot dort den Terrorgruppen einen idealen Nährboden und könnte auch in Libyen al-Qaida auf den Plan rufen. Aber ungestraft davonkommen dürfen die Schergen und Verantwortlichen des alten Regimes auch nicht, dafür haben sie viel zu viel Leid und Schuld auf sich geladen. Wahrlich, es wird kein leichter Weg.
Im Neuen Testament ist nur an einer einzigen Stelle von Libyen die Rede: ausgerechnet beim Pfingstwunder! Dort in Jerusalem sind unter den vielen versammelte Nationen auch Libyer. Sie werden Zeugen, wie ein Brausen vom Himmel geschieht und die Jesusanhänger anfangen in verschiedenen Sprachen zu predigen und jeder, also auch die Libyer die Botschaft dann in seiner Sprache hört.
Ich wünsche Libyen selbst nun ein solches Pfingstwunder. Dass die vielen Gruppen und Stämme einander verstehen und eine gemeinsame Sprache und Botschaft finden, die bei allen Libyern ankommt, die ihnen Hoffnung gibt, Zusammenhalt und eine gemeinsame Vision: ein demokratisches und rechtstaatliches neues Libyen.
Thomas Dörken-Kucharz ist Pfarrer und Chef vom Dienst der Rundfunkarbeit im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP). Die "Gedanken zur Woche" wurden am Freitagmorgen im Deutschlandfunk gesendet.