Als Camila Vallejo zur ersten Protestkundgebung am 28. April in Santiago aufrief, kamen 8.000 Studenten. Jetzt kamen zum "Familiensonntag für die Bildung" Hunderttausende Demonstranten in den O'Higgins-Park. Und die Bewegung für ein gutes und kostenloses Bildungssystem in Chile wächst weiter. Die 23-jährige Geografiestudentin ist ihr bekanntestes Gesicht.
Links, redegewandt und telegen: Als "revolutionäre Schönheit" wird die junge Frau mit langem, dunkelbraunen Haar und einem Nasenpiercing betitelt. Legere Kleidung ist für sie ebenso selbstverständlich wie diskretes Make-up. Chiles Medien haben sie längst zur Gegenspielerin des konservativen Staatschefs und Unternehmers Sebastián Piñera (61) aufgebaut.
Während die Regierung an der stark wirtschaftsliberalen Ausrichtung von Schulen und Universitäten festhalten will, die auf die Weichenstellungen des Diktators Augusto Pinochet von 1980 und 1990 zurückgehen, sagt Vallejo: "Wir wollen dieses Bildungssystem nicht verbessern, wir wollen es durch ein anderes ersetzen."
"Ich habe mir mein Aussehen nicht ausgesucht, jedoch mein politisches Projekt"
In Talkshows schlüpft die Studentin souverän in die Rolle einer alternativen Bildungsministerin. Ernst und klar erläutert sie immer wieder, warum das Bildungswesen mit der starken Rolle privater Institute in ihren Augen ein Mehrklassensystem ist, das die soziale Schieflage zementiert: Viele junge Leute müssen hohe Kredite aufnehmen, um studieren zu können.
Auf ihr gutes Aussehen angesprochen, zeigt sich Vallejo im Umgang mit den Medien pragmatisch: "Weil ich schön bin, laden sie mich ein, deswegen komme ich in bestimmte Sendungen und kann dort für meine Ideen werben", sagte sie dem Hochglanzmagazin "Paula". Und: "Ich habe mir mein Aussehen nicht ausgesucht, sehr wohl jedoch mein politisches Projekt." Sie bezeichnet sich als Kommunistin - wie ihre Eltern in den 70er Jahren. Parteipolitik spiele für sie aber kaum ein Rolle, die traditionellen linken Kräfte tauchen in der Bewegung der Schüler und Studenten nur am Rande auf. Im November 2010 wurde Vallejo an der staatlichen "Universidad de Chile" über die Liste "Kollektiv linke Studierende" zur Vorsitzenden des Studentenverbands gewählt, als zweite Frau überhaupt.
Laut Umfragen weiß Vallejo 80 Prozent der Bevölkerung hinter sich und ihrer Bewegung. Pinochets Erben hingegen sind alarmiert: "Sie hat ein halb teuflisches Gesicht, das Land kniet ihr zu Füßen", geiferte ein Bezirksbürgermeister in Santiago. Eine Beamtin aus dem Kulturministerium twitterte: "Tötet die läufige Hündin, dann beruhigen sich die Rüden." Ihre Eltern zogen vor das Appellationsgericht von Santiago, doch das wollte keine Bedrohung erkennen.
"Wir brauchen Reformen, um mit der erdrückenden Ungleichheit aufzuräumen"
Vallejo zeigt sich unbeeindruckt. "Wir brauchen strukturelle Reformen, um endlich mit der erdrückenden Ungleichheit, der Ungerechtigkeit und der fehlenden Freiheit in unserem Land aufzuräumen", sagt sie. Das finden auch die Gewerkschaften, die für Mittwoch und Donnerstag zu einem Generalstreik aufgerufen haben - Hunderttausende Schüler und Studenten sind mit von der Partie.
In Chile dauern die Demonstrationen für eine Bildungsreform an. Seit der Pinochet-Diktatur (1973-1990) ist das chilenische Bildungssystem an neoliberalen Grundsätzen ausgerichtet. 60 Prozent der Schulen und Universitäten sind in der Hand von privater Trägern. Insgesamt wird nur ein Viertel des Bildungswesens vom Staat finanziert, drei Viertel müssen die Schüler und Studenten aufbringen.
Die Grundschulen sind kostenlos. Ab der Sekundarstufe können die Schulen Gebühren verlangen. Für die Schulbildung ist seit 1990 nicht mehr der Zentralstaat verantwortlich, sondern die Kommunen. Ein Teil der Privatschulen erhält staatliche Subventionen. Das Studium ist seit 1981 grundsätzlich kostenpflichtig, 70 Prozent aller Studenten müssen heute staatliche oder private Kredite aufnehmen. Viele starten deshalb mit einem hohen Schuldenberg ins Berufsleben. Da die Kinder ärmerer Familien zumeist die billigeren und schlechter ausgestatten öffentlichen Schulen besucht haben, sind sie bei den Zulassungsprüfungen der begehrten staatlichen Universitäten im Nachteil. Ihnen bleiben oft nur die Privatunis, für die sie aber die Gebühren kaum aufbringen können. Im lateinamerikanischen Vergleich ist die Kluft zwischen den Bildungschancen von Arm und Reich in Chile am größten.